Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
sammelten ihre Matten und Töpfe ein, trieben ihre Kinder zusammen und machten Platz für ihn.
Schließlich lächelte Arang, hob die Hand und zog sich den Schal vom Kopf. Langsam begann er sich zum Dröhnen der Trommeln zu bewegen. Er hatte schon lange nicht mehr getanzt und wirkte nervös; aber bald fiel er in den Takt der Instrumente ein und entspannte sich. Seine Hüften kreisten vor und zurück, seine Arme ahmten die Bewegungen einer Schlange nach, seine Füße flogen nur so über den Erdboden. Er wirbelte den Schal durch die Luft und ließ ihn sich um seinen Körper schlängeln wie ein lebendiges Wesen. Der Schal wurde zu einem Kreis und dann zu einer gewellten Linie; er wurde ein Partner und ein Liebhaber. Arang krümmte seinen Rücken durch, stand auf den Händen und schlug einen Salto nach dem anderen; er sprang in die Luft und landete so leicht auf den Füßen wie eine Feder.
Stundenlang tanzte er, und während er kühne Sprünge vollführte und sich geschmeidig drehte, dachte Marrah voller Stolz, daß ihr Bruder einer der besten Tänzer war, den sie je gesehen hatte. Dies war der junge Mann, den Vlahan damals verprügelt hatte, weil er zu tanzen gewagt hatte; der junge Mann, den die Nomaden in einen brutalen, kaltherzigen Krieger zu verwandeln versucht hatten.
In jener Nacht schlief Marrah im Haus ihrer Großmutter unter einem weichen Leintuch, ihren Körper eng an den Stavans geschmiegt, und am Morgen wurde sie von den Fußtritten des Kindes geweckt, als es wie sein Onkel Arang tanzte.
Am folgenden Nachmittag erschienen Marrah und Arang vor dem Ältestenrat, um die Geschichte ihrer Reise nach Shambah zu erzählen. Es war der Moment, dem beide entgegengebangt hatten; deshalb kam Stavan mit, um ihnen Mut zu machen und ihre Schilderungen durch seine zu ergänzen.
Der Tag war heiß, und so traf sich der Rat im Freien unter einem blauen, mit Schlangen bestickten Sonnensegel. Von der Stelle aus, wo sie saß, bequem auf einen Stapel Kissen gestützt, hatte Marrah eine gute Aussicht auf die weißen Raspas – jene schnellen Boote, die Handelsgüter nach Shara brachten und von so weit her kamen wie vom Blauen Meer –, und als sie auf die unendliche, glitzernde Wasserfläche schaute, dachte sie, wie ruhig und friedlich alles schien – wenn sie doch Stillschweigen über ihre Erlebnisse bewahren dürfte!
Die Ältesten erschienen in kleinen Gruppen von zweien oder dreien, schenkten sich Becher mit schwarzem Johannisbeersaft ein und setzten sich, um zuzuhören. Es waren insgesamt neun: vier Männer und fünf Frauen, die alle drei Jahre durch Losentscheid gewählt wurden – bis auf Bindar und Lalah, die auf Lebenszeit im Amt waren. Die Ratsmitglieder waren zwischen fünfundvierzig und achtzig Jahre alt, und Marrah kannte sie alle gut. Während ihrer Jugendjahre in Shara hatte sie manchen Nachmittag damit verbracht, zu ihren Füßen zu sitzen und zuzuhören, wie sie Gedenklieder sangen. Ulitsa komponierte Balladen und war eine ausgezeichnete Harfenistin; Chemtar hatte Marrah häufig mit in die Wälder genommen und ihr alles über die heimischen Kräuter beigebracht; Shantar hatte sie gelehrt, die heiligen Schriftrollen zu lesen; Onkel Bindar hatte ihr beigebracht, passable Keramiken herzustellen; Walisha war die Oberpriesterin des Eulentempels; Yintesa jagte noch immer in kleinerem Umfang – hauptsächlich Kaninchen –, obwohl sie schon gut über die Sechzig sein mußte; Blentsa verbrachte einen Großteil ihrer Zeit damit, sich um ihre Enkelkinder zu kümmern; und Dakar, der älteste, amtierte als »Hüter der Männerriten«. Sie alle waren klug, mitfühlend und dickköpfig, und es tröstete Marrah zu denken, daß es keinen unter ihnen gab, der nicht jeder Notsituation gewachsen gewesen wäre.
Gewöhnlich trafen sie sich mindestens zwei- oder dreimal die Woche in zwangloser Runde, um Feste zu planen, Streitigkeiten zu schlichten und alles das zu tun, was sonst noch getan werden mußte, um die Stadt zu regieren; die Treffen dauerten meistens stundenlang, deshalb flochten sie Hüte aus Riedgras, während sie debattierten, um keine Zeit zu verschwenden. Als alle neun eingetroffen waren, ging Lalah von Ratsmitglied zu Ratsmitglied und verteilte Bündel mit Riedgras, und alle machten sich an die Arbeit, nur Dakar und Blentsa nicht wegen ihrer steifen Finger.
Im Laufe der Jahre hatte sich herausgestellt, daß man den Ernst eines jeden Falles daran messen konnte, wie viele Hüte fertig wurden, bevor er gelöst
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