Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
gearbeitet: Einige hatten die gemeinschaftlichen Gemüsefelder gejätet, einige die Tiere versorgt; andere nahmen sich der Kinder an und erzählten ihnen Geschichten; die Handwerker dagegen töpferten, webten Tuch, fischten, flickten Netze, besserten Zäune aus oder kochten. Auch die Jäger waren nicht faul gewesen.
Zwei Frauen hatten Kinder geboren, ein kranker Pilger war in der heißen Quelle gebadet worden; zudem war ein Raspa mit einer Ladung seltener Gewürze und Körben voller Jadeperlen am Spät-nachmittag aus dem Süden eingetroffen und hatte begeisterte Neugier bei den Bewohnern geweckt.
Jetzt waren die Straßen so gut wie leer. In den Tempeln kümmerten sich die Priesterinnen um die Altarfeuer, kneteten den Brotteig für den nächsten Tag und unterhielten sich miteinander; aber fast alle anderen Einwohner von Shara schliefen bereits.
Hier und da brannte noch eine Öllampe und warf lange, flackernde Schatten auf weißgetünchte Wände. Die Schatten schienen lebendig, zuckten vor und zurück, einige langsam, andere schnell. Schnarchen und Seufzer waren in der Stille der Nacht vernehmbar und manchmal ein zärtliches Lachen. Die Nächte in Shara gehörten den Liebenden, die miteinander flüsterten, um die Kinder nicht zu wecken; denn die Mutterhäuser besaßen zwar abgetrennte Schlafabteile, aber ziemlich dünne Wände.
In Lalahs Haus hatten Hiknak und Arang ihre Tochter Keshna in das Kinderzimmer gebracht und sie sorgfältig zugedeckt – dann waren sie in ihr Schlafabteil zurückgekehrt. In dem winzigen Abteil gab es nur einen Wasserkrug, eine Doppelschlafmatte und drei Kissen, aber immerhin ein rundes Fenster mit Ausblick auf den Süßwassersee.
Hiknak stand einen Moment am Fenster und blickte hinaus. Sie war in einer Gegend ohne Hügel geboren und aufgewachsen, und es erstaunte sie immer wieder, daß man vom zweiten Stockwerk eines Hauses aus so weit sehen konnte. An diesem Abend leuchtete das Wasser im Mondlicht. Manchmal, wenn sie die Augen zu Schlitzen verengte, sahen die weißen Schaumkrönchen auf den Wellen wie das gefiederte Gras der Steppe aus, aber kein Gras hatte jemals so viel Kraft gehabt. Die Wellen klatschten gegen die Felsen und wichen mit einem murmelnden Geräusch zurück, das sie an das Summen unzähliger Bienen erinnerte. Eines Tages, dachte Hiknak, werden sie die ganze Welt zu Sand zermahlen haben.
Arang trat hinter sie und legte seine Arme um ihre Taille. »Laß mich dein Haar kämmen«, bat er. Er griff nach Hiknaks Zöpfen und löste sie, bevor er ihr Haar um sein Handgelenk schlang, um sein Gewicht und seine seidige Weichheit zu spüren. Hiknak lächelte, setzte sich und lehnte sich träge in die Federkissen zurück. Sie war nun nicht mehr eine magere kleine Nomadin aus der Steppe mit Augen wie ein verängstigtes Tier. Seit Keshnas Geburt hatte sie an Gewicht zugenommen, und als Arang jetzt ihre runden Arme und vollen Wangen betrachtete, fand er, sie sah so hübsch und appetitlich wie ein frischer Apfel aus.
»Fang an zu kämmen!« befahl sie. Sie lachte und tat so, als ob sie sein Häuptling wäre, obwohl seine Leute keine Häuptlinge kannten. Sie, Hiknak, war der beste aller Häuptlinge, nicht grausam wie Vlahan, sondern ein Häuptling des Bettes, Häuptling von Liebe und Lust. Sie liebte es, Arang zu kommandieren, und er liebte es zu gehorchen, und alles, was sie zusammen taten, taten sie um der Freude willen, einander Vergnügen zu bereiten.
Langsam begann Arang, die Knötchen herauszukämmen, während er ab und zu innehielt, um sein Gesicht in ihrem Haar zu vergraben. Hiknaks Haar duftete nach Regen und Moschus, und selbst nach diesen drei Jahren der Leidenschaft mit ihr fand Arang dessen Farbe nach wie vor erstaunlich. Manchmal, wenn er ihre Zöpfe öffnete, dachte er dabei an das Gold, mit dem Zuhan sich zu schmücken pflegte. Er erinnerte sich an die goldenen Ohrringe und Ringe des Großen Häuptlings, den Goldanhänger in Form einer Sonne, die goldenen Kreise auf seiner Tunika und die goldene Schnalle seines Gürtels. Zuhan hatte für Gold gelebt und für Gold getötet; aber soweit Arang es beurteilen konnte, hatte es ihm nicht einen Augenblick echten Glücks eingebracht. Das einzige Gold, das zu besitzen sich lohnte, war das Gold von Frauenhaar – oder das Gold von Männerhaar, wenn man Männer liebte – oder von jeglicher Haarfarbe, die man liebte. Als Arang mit dem Kamm von Hiknaks weißem Scheitel abwärtsglitt, ließ er seine Gedanken wandern.
In einem
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