Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
aber im großen und ganzen war durchaus klar, was er zu sagen hatte: Stavan, Arang, Marrah und die beiden Konkubinen hatten die Waldländer durchquert und waren nach Süden geritten zu irgendeinem Ort namens Shara.
Schließlich verstummte der Krieger, aber Changar war noch nicht zufrieden. Er saß einen Moment da, erinnerte sich an die Vision, die er gehabt hatte beim Verzehr der heiligen Pilze. Die Zukunft, die er vorausgesehen hatte, entrollte sich so glatt wie ein Teppich vor ihm, und als er sah, wie sich der Teppich weiter und weiter ausbreitete, mit jedem Muster an seinem richtigen Platz, wußte er, daß seine Eingebungen sich bewahrheiten würden. Wilder Triumph erfüllte ihn angesichts jenes Wissens, und er schwelgte darin, ließ ihn wie einen köstlichen Tropfen über seine Zunge rinnen. Als er erneut sprach, war seine Stimme so leise, daß der Shubhai-Krieger die Ohren spitzen mußte, um ihn zu verstehen.
»Weiter«, befahl er. »Erzähl dem Großen Häuptling den Rest.«
»Aber es gibt nichts mehr zu erzählen.«
»Erzähl ihm von den Frauen.«
»Ach so, ja, die Frauen.« Der Krieger grinste verlegen. »Widerwärtige kleine Biester, alle miteinander. Sie stürzten sich auf Nichan und bedrohten ihn mit ihrem Messer, seitdem ist er zum allgemeinen Gespött geworden. Man stelle sich das einmal vor: ein Häuptling, der von schwangeren Frauen überwältigt wird!«
»Hast du gesagt, die Frauen waren schwanger?« hakte Vlahan nach.
Der Shubhai nickte. »Die Dunkelhaarige war es ganz sicher, und ich glaube, die kleine Blonde auch, obwohl sie ihren Bauch zum Teil ausgestopft hatte.« Seine Hände beschrieben einen weit ausholenden Bogen. »Die Dunkelhaarige hatte einen Bauch bis hierher. Später erfuhr Nikhan dann, daß sie Zwillinge geboren hat in jenem Ort namens Shara: einen Jungen und ein Mädchen, hieß es.«
Vlahan drehte sich zu Changar um. »Marrah?«
Changar nickte.
»Wenn Marrah einen Jungen geboren hat, dann habe ich einen Sohn!« rief Vlahan aufgeregt. »Bei Han, Changar, alter Fuchs! Nach all diesen Jahren habe ich endlich einen Sohn! «
Der Shubhai-Krieger blickte verwirrt drein. »Stavan, Sohn von Zuhan, sagte damals, diese Dunkle wäre seine Ehefrau, also müßte dann nicht dieser Junge
sein . . .«
»Schweig
still! « brüllte Vlahan.
»Stavan hat gelogen«, sagte Changar. »Marrah mag zwar eine Hexe sein, aber sie ist Vlahans Gemahlin, und jedes Junge, das sie wirft, gehört ihm.«
»Verschwende nicht deinen Atem mit unnötigen Erklärungen«, sagte Vlahan brüsk. Er wandte sich an den Krieger, der ihn voller Angst anstarrte. Changar hatte jenen Ausdruck schon oft in den Augen von Pferden gesehen, wenn die Tiere erkannten, daß sie geopfert werden würden. Es war ein weißer, panikerfüllter, glasiger Blick. »Ich nehme an, du erwartest eine hübsche Belohnung dafür, daß du mir diese Geschichte erzählt hast«, sagte Vlahan. Seine Stimme klang unheilverkündend ruhig, aber der Shubhai verkannte offenbar die Drohung, die darin mitschwang; denn er straffte sich, und sein Blick konzentrierte sich wieder auf Vlahan.
»Ich habe gehört, du bietest allen denjenigen Gold und Pferde, die etwas Neues über den Verbleib der fünf Abtrünnigen zu berichten wissen, Rahan.«
»Gold und auch Pferde, richtig; du sollst deinen gerechten Anteil bekommen, sobald du meine Krieger sicher an deinem Häuptling vorbeigeführt hast, der zwischen uns und den Waldländern steht.« Vlahan hielt inne und bediente sich mit ein paar gerösteten Körnern. Er kaute sie bedächtig, ohne den Shubhai aus den Augen zu
6o lassen. Als er fertig war, wischte er sich die Hand an seinem Umhang ab und erhob sich auf die Füße. »Natürlich werden wir dir die Zunge herausschneiden müssen, aber ...«
»Meine Zunge herausschneiden?« schrie der Mann.
Vlahan wandte sich an Changar. »Tu es gleich«, sagte er. »Tu es, bevor er sein Geschwätz noch weiter verbreitet.«
Wie immer kam Changar der Aufforderung bereitwillig nach.
Aus dem Frühling wurde Sommer. An einem Sommerabend, ungefähr zwei Wochen vor dem Fest der Tiere, stieg der Mond über Shara auf und verströmte sein silbriges Licht über einer Stadt, die in Frieden mit sich selbst und ihren Nachbarn lebte. Auf den Feldern sangen die Zikaden in einem gleichmäßigen, beruhigenden Zirpen. Im Süden lag die Schlange der Zeit in glitzernden, reglosen Windungen, so als wäre die Zeit selbst stehengeblieben. Die meisten Leute hatten den ganzen Tag über
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