Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
war einer von Changars guten Abenden. Er aß mühelos, ohne daß das Essen an seinem Kinn heruntertropfte, wie es manchmal geschah. Danach unterhielt er sich sogar eine Zeitlang mit Keru und redete in sinnvollen Sätzen. Sie sprachen über nichts Wichtiges, nur über das Wetter, das für die Jahreszeit ziemlich kühl war; aber Keru hörte erleichtert, wie der alte Mann einen Gedanken mit dem anderen verknüpfte, statt völlig zusammenhangloses Zeug zu reden.
Als sie aufgehört hatten, laut darüber nachzudenken, ob es in absehbarer Zeit regnen würde oder nicht, bedeutete Changar Keru mit einer Handbewegung, ihm den Kersekschlauch zu bringen, und sie saßen eine Weile schweigend da und tranken. Schließlich zeigte Changar erwartungsgemäß auf den anderen Schlauch, denjenigen, der das starke schwarze Gebräu enthielt. Ganz gleich, wie schlecht es ihm ging, Changar vergaß niemals, daß Keru den schwarzen Trank brauchte, um einzuschlafen.
Keru nahm den Schlauch vom Haken und gab ihn Changar, der mit zitternden Händen den Stöpsel herauszog und den Schlauch dann wieder Keru reichte. Der süße Duft von Anis erfüllte das Zelt.
»Trink, soviel du willst, mein lieber Junge«, murmelte Changar.
Keru lächelte, hob dankend den Schlauch und trank einen kräftigen Schluck. Wie immer begann der schwarze Zaubertrank in seinem Kopf zu singen und lullte ihn ein. Er trank einen zweiten Schluck, verstöpselte den Schlauch wieder und lehnte sich zufrieden zurück. Heute nacht, dachte er, werde ich gut schlafen.
»Trink ruhig noch mehr«, schlug Changar vor. Keru war überrascht, weil Changar ihm nur selten dreimal von dem Getränk anbot, aber er war nur zu gerne bereit. Als er zum dritten Mal trank, wurde der süße Gesang des schwarzen Gebräus noch sanfter und verführerischer. Unsichtbare Fingerspitzen schienen seine Arme und Beine zu streicheln. Er spürte ein leichtes Prickeln auf der Kopfhaut, und seine Lider wurden schwer. Keru gähnte. Onkel Changar ist ein guter Mann, dachte er, und das Leben ist schön.
Das nächste, was er mitbekam, war, daß das Feuer erloschen war und Changar ihn sanft an der Schulter rüttelte.
»Rotkehlchenei«, flüsterte Changar.
»Was?« Keru erkannte, daß er eingeschlafen sein mußte, was ihn nicht sonderlich überraschte, da er immer eindöste, wenn er mehr als gewöhnlich von dem schwarzen Gebräu getrunken hatte.
»Wolf. Schneehasen. Sternschnuppen.«
Der alte Mann redete wirr, Keru streckte den Arm aus und tätschelte beschwichtigend Changars Hand. »Ist ja schon gut«, sagte er. »Ich bin ja jetzt wach. Du brauchst keine Angst zu haben, Onkel. « Aber Changar schien keine Angst zu haben, er schien seine Ruhe haben zu wollen. Er stieß Keru mit dem Zeigefinger in die Brust.
»Geh«, sagte er gereizt.
Widerstrebend erhob Keru sich. »Willst du wirklich nicht, daß ich noch ein Weilchen bei dir sitze?«
Changar schüttelte energisch den Kopf. »Geh«, wiederholte er.
Keru begriff, daß er den alten Mann nur aufregen würde, wenn er darauf bestand, noch bei ihm zu bleiben, deshalb sagte er gute Nacht und verließ das Zelt. Die Sterne am Himmel wirkten in dem dichten Nebel, der vom Fluß aufstieg, wie Milchkleckse, und der Mond war eine verschwommene Sichel. Der Rauchfluß strömte lautlos unter seinem grauen Schleier dahin. Keru betrachtete den Mond und den Fluß, aber der Anblick erfreute ihn nicht so wie sonst. Er durchquerte das Lager und strebte leicht torkelnd auf den Korral zu. Die Wachen, die seinen schwankenden Gang beobachteten, dachten:
Der Häuptling ist wieder mal betrunken,
und billigten es stillschweigend. Ein Mann, der Nacht für Nacht derart viel trank und trotzdem noch aufrecht gehen konnte, mußte stark sein wie ein Wolf.
Keru hielt am Korralzaun an, indem er leicht dagegenprallte. Er stützte sich einen Moment auf den Zaun und starrte auf die schillernden Farben, die die Holzpfähle einrahmten. Er sah diese Farben nur in der Nacht, aber sie waren wirklich wunderschön, wie farbiger Sand, der zwischen Gegenständen hindurchrieselt.
Als er es leid wurde, die wabernden Regenbögen zu betrachten, hob er den Kopf und blickte auf die Pferde, die still im Nebel standen. Er schürzte die Lippen und stieß einen leisen Pfiff aus, und Windtänzer löste sich von der Herde und kam auf ihn zugetrabt. Keru streichelte den Hengst und fütterte ihn mit ein paar Wasserzwiebeln, die er tagsüber gesammelt hatte. Die Knollen waren schon ein bißchen verschrumpelt und nicht
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