Altoetting
geschluchzt, dass Plotek die Nackenhärchen wieder aufrecht standen wie die Statisten. Was die Zeller Froni an Einfühlungsvermögen zu viel zeigte, erbrachten die Statisten und Kleindarsteller zu wenig. Meistens sind sie exakt da stehen geblieben, wo Niederbühler sie hingestellt hatte. Null Ausdruck, null Darstellung, wie aus Pappe eben.
Während Jesus also mehrmals mit dem Kreuz auf die Knie gefallen ist, erklang im Hintergrund ein Gesang. Der Gesang kam vom Altöttinger gemischten Stiftschor. Alle waren als Engel verkleidet und meist ziemlich dezimiert, weil einmal konnte der nicht, dann war wieder ein anderer verhindert und so weiter.
»Aber bei der Premiere seid ihr komplett!«, hat Niederbühler immer zu Anfang jeder Probe gesagt und ein »Selbstverständlich!« geerntet.
Dann wird Simon gezwungen Jesus’ Kreuz zu tragen. Der angedeutete Hügel mit Pappmascheefelsen, die Schädel-Stätte, also Golgatha. Jesus bekam Wein vermischt mit Galle zu trinken. Wie im Textbuch festgelegt war, wurde Jesus die Flasche von einem der römischen Soldaten gereicht. Böses Gelächter. Hämische Fratzen. Jesus, am Boden liegend, hat danach gegriffen und Himmel! Plotek stutzte. Das Etikett! Das Etikett war eigenartig. Auf dem Etikett ist eine seltsame Zeichnung gewesen. Zuerst dachte Plotek noch, auf einer seltsamen Flasche ist eben ein seltsames Etikett, da hat sich die Requisite mal was Neues einfallen lassen. Warum nicht? Dann schaute Plotek sich aber das Etikett etwas genauer an, es entstand also eine lange Pause, so dass die Soldaten schon unruhig wurden. Und als Plotek dann auch noch aus der Flasche getrunken hat, anstatt sie wie im Textbuch vorgesehen, angewidert weit von sich zu stoßen, gab es ziemlich irritierte Blicke bei den Römern. Plotek dagegen wollte Zeit gewinnen und die Zeichnung studieren.
Zwei Buchstaben, zwei Kreise, zwei Kreuze. G und T. Plotek musste nicht lange nachdenken. Spätestens am Kreuz, bei der Kreuzigung, als er »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!« laut auf den Bruder-Konrad-Platz geschrien hat, ist es ihm eingefallen. Quasi Erleuchtung. T gleich Topf und G gleich Granz. Was die zwei Kreuze bedeuteten, war auch klar: tot. Und die Ringe? Vielleicht Verheiratet? Annegret war siebzehn, als sie starb, also doch eher unwahrscheinlich. Also verlobt. Obwohl sie doch ein Techtelmechtel mit dem Klosterpater gehabt hatte. Komisch, dachte Plotek, laut Zeichnung haben Annegret Topf und der grausam ertrunkene Milchfahrer Granz ein Verhältnis miteinander gehabt.
Dann ist Jesus am Kreuz gestorben. Bis zur Auferstehung, also über der Kreuzabnahme und allem, war Plotek wieder ein einziger Gedankenstrudel. Die Buchstaben sind ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen, haben sich zu Bildern zusammenmontiert und sich wie Dias an die Schädelwand projiziert. Überall, wo Plotek hingeschaut hat, hat er nur noch Ts gesehen und Gs oder vielmehr Gegenstände, Personen und Wörter, die mit T oder G angefangen haben. Tisch, Tabernakel, Thomas, Tumor, Trommel, Trimm-dich-Pfad, Trance, Trichinose, Traum, Tragik, Trugschluss, Totentanz, Totenkult, Trafikant, Tragant, Torwart, Töten, Tafelbild, Talisman . . . Topf. Gedächtnis, Geburtstag, Gebinde, Glauben, Gans, Gastronomie, Gänseblümchen, Gallenstein, Galilei, Gehirntumor, Gabel, Galgen, Galionsfigur, Gelbsucht, Golgatha . . . Granz. Dann Votivbild, Krakelschrift, Zettel und schließlich Ende. Zuerst hat er’s gedacht, dann ist es auch eingetroffen.
In Ploteks Garderobe im Kloster stand dann die Maria Magdalena plötzlich vor Plotek. Die Haare hat sie wieder offen getragen und eine ganz wichtige Miene aufgesetzt. Plotek dachte noch, lass diesen Kelch an mir vorübergehen, als die Merz Monika, noch im Magdalena-Kostüm, schon losgelegt hat. Mit Zellers Verhaftung hätte sie nichts zu tun. Also, kein anonymer Anruf von ihr, obwohl das natürlich den Anschein haben könnte.
»Aber, Herr Plotek, ich bin doch keine Denunziantin! Das müssen Sie mir glauben. Ich mach nur meine Augen auf, wo andere sie zukneifen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Und dann hat die Merz Monika alle Verdächtigungen, die ihr gegenüber entstanden sein könnten, niedergebügelt. Mit einer Vehemenz, dass Plotek der Merz Monika nicht nur die Denunziation zugetraut hätte, nein, alles, auch Mord. Es war eine einzige wirbelnde Verteidigungsrede: Mit der Verhaftung vom Bürgermeister aus Oberammergau hätte sie auch nichts zu tun, obwohl es dem recht geschehen würde,
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