Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
todmüde war. Das Leben, das sie vor ihrem Aufbruch geführt hatte, lag bereits in so weiter Ferne, dass es ihr unwirklich erschien. Der Hof, die Tiere, die Kornfelder – was war aus all dem geworden? Würde sie ihre Heimat jemals wiedersehen? Sie waren erst drei Tage unterwegs – und doch schien es seit einer Ewigkeit nur Henri, Miraj und sie zu geben – und eine Welt, die ihr fremd war und in der sie anscheinend keinen Platz hatte. Doch auch, wenn sie tagsüber das Gefühl hatte, nicht dazuzugehören, weil sie nicht über Kräfte verfügte – am Abend, wenn sie mit Miraj zusammensaß, fühlte sie sich am richtigen Platz. Miraj nahm sie ernst. Es musste so sein, sonst würde er ihr doch nicht all diese Dinge erzählen. Mit diesem tröstlichen Gedanken schlief Anne endlich ein.
Viel zu früh wurde sie wieder geweckt. Seit Miraj am gestrigen Tag die Spuren entdeckt hatte, wirkte er unruhig und drängte nach jeder kurzen Rast schnell wieder zum Aufbruch. Im Laufe des heutigen Tages schien jedoch alles normal. Was sich indes veränderte, war die Landschaft. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie immer wieder reich bestellte Felder gesehen, wie es im östlichen Teil des Landes üblich war. Die Erde war fruchtbar gewesen, Flüsse und Bäche hatten für eine üppige Vegetation gesorgt. Nun, wo es in Richtung Süden ging, wurde die Landschaft immer karger. Bäume waren nur noch vereinzelt zu sehen und auch die Singvögel, die sie auf ihrem Weg begleitet hatten, ließen sich hier nicht vernehmen.
Gegen Mittag rasteten sie an einem Bach. „Das ist für die nächsten Tage wohl die letzte Gelegenheit, unsere Wasservorräte aufzufüllen. Lasst uns heute Abend hier bleiben und uns tüchtig satt trinken. Von jetzt an reisen wir bei Nacht weiter, um der sengenden Sonne zu entgehen“, sagte Miraj. – „Aber werden wir dann nicht den Vorsprung gegenüber unseren Verfolgern verlieren?“, fragte Henri. „Das ist denkbar, deshalb ist es umso wichtiger, dass du heute Nacht unsere Spuren sorgfältig verwischst“, erwiderte Miraj in ungewohnt scharfem Ton. „Besser du ruhst dich jetzt aus.“ Henri zog sich – mit missmutigem Gesichtsausdruck – zurück und hüllte sich einige Schritte entfernt in eine der Satteldecken ein. Miraj würdigte er keines Blickes mehr. „Narr – als ob er sich nicht bewusst ist, was auf dem Spiel steht“, grollte sein Lehrer. „Ich verstehe das nicht. Du verfügst doch ebenfalls über Zauberkräfte. Sind sie denn nicht stark genug, uns zu verbergen?“ begann Anne. Miraj sah sie an. „Damit hast du wohl die nächste Fragestunde eröffnet.“
Sie setzten sich ein Stück abseits, damit der allmählich einschlafende Henri nicht von ihrem Gespräch gestört wurde. Dann begann Miraj: „Siehst du, Anne, ich habe mich schon gefragt, wann dir bewusst wird, dass ich auf eurem Hof nicht gezaubert habe. Das hängt mit zweierlei Dingen zusammen. Zunächst hat mich der Hohe Rat der Universität mit einem lokalen Zauberbann belegt, der etwa 20 Meilen um euren Hof herum wirksam war. Das habe ich gemeint, als ich sagte, niemand hätte an unserem Kampf gegen die Schwarzmagier teilnehmen können. Daher habe ich mit Henri nur noch den Schwertkampf trainiert, keine magischen Kampfarten. Und deshalb konnte ich auch nicht eingreifen, als die Schwarzmagier euren Hof in Brand setzten.“ Anne fragte daraufhin bestürzt: „Soll das heißen, wenn es den Zauberbann nicht gegeben hätte, dann hättest du den Tod meines Vaters verhindern können?“ Miraj machte ein gequältes Gesicht. „Ehrlich gesagt: wahrscheinlich nicht. Wie ich dir bereits erklärt habe, ist ein magisches Feuer eine gefährliche Waffe. Es wäre möglich gewesen, den Brand auf ebenso magische Art zu löschen und die Schwarzmagier auf Entfernung zu halten. Aber nicht für einen einzelnen, denn dafür waren es zu viele und ihre Kräfte zu stark. Doch selbst wenn es nur einer gewesen wäre, hätte ich es nicht geschafft.
Bevor ich dir den Grund dafür erkläre, möchte ich, dass du eines weißt: Dein Vater wusste von dem bevorstehenden Angriff, genau wie Henri und ich. Er wusste, dass es gefährlich sein würde und er sagte mir, dass er den Tod nicht fürchte. Er hat mich nur gebeten, dass ich mich um dich kümmere, sollte ihm etwas geschehen.“ Miraj hatte die letzten Sätze schnell herausgepresst und schwieg nun. Das war also der Grund, warum er Abend für Abend mit Anne sprach. Er hatte die Verantwortung für sie übernommen. Sie war sich nicht
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