Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
verloren und die altehrwürdigen Herren haben nichts Besseres zu tun, als dich aus Mirajs Haus zu werfen.“ Sie tätschelte Anne die Wange, die etwas hin- und hergerissen war zwischen Rührung über die mütterliche Fürsorge und dem Wunsch, vor Miraj nicht wie ein hilfloses Kind auszusehen. Silvia hakte Anne unter und zog sie ins Haus, bevor sich diese entschieden hatte, wie sie reagieren sollte. Rasch zeigte sie ihr alle Räume und schob sie dann sanft ins Gästezimmer, wo sie bereits das Bett frisch bezogen und ein paar Blumen in einer Vase auf den Nachttisch gestellt hatte. „Nun pack erst einmal in Ruhe deine Sachen aus, mein Kind. Und wenn du fertig bist, komm in die Küche und wir essen eine schöne Suppe.“
Als Anne sich eingerichtet hatte, lief sie sogleich die Treppe hinunter. Das Haus erinnerte sie sehr an ihr früheres Zuhause und plötzlich spürte Anne einen dicken Kloß im Hals. Bevor sie die Beherrschung verlor, ging sie rasch in die Küche. Dort saßen Silvia und Miraj bereits am Tisch. „Dann haben die altehrwürdigen Herren mich wissen lassen, dass sie ihre Entscheidung wegen Henri erst in ein bis zwei Wochen treffen“, berichtete Miraj gerade und Silvia schüttelte den Kopf. Beide sahen zu Anne, als diese den Raum betrat, den Kuchen von Gisalen auf den Tisch stellte und sich setzte. Silvia stand auf und schöpfte Suppe in Annes Teller. Miraj erhob sich mit den Worten: „Es ist schon spät, daher reite ich jetzt lieber zurück. Anne, ich wünsche dir eine gute Eingewöhnung hier und komme dich sobald wie möglich besuchen. Übrigens“, fügte Miraj zu seiner Mutter gewandt hinzu, „ist Anne eine große Leserin. Wenn du ihr vielleicht ein wenig Lektüre zur Verfügung stellen würdest …“ Silvia sah erst Miraj, dann Anne erfreut an. „Aber natürlich. Wir gehen gleich ins Kaminzimmer und suchen etwas für dich aus.“ Miraj zwinkerte Anne zu und verabschiedete sich von seiner Mutter. Anne löffelte ihre Suppe aus, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und seufzte. Nun war sie also endlich angekommen. Unbemerkt von Silvia liefen ihr Tränen die Wangen hinunter. Sie wusste selbst nicht, ob dies aus Erleichterung, Trauer wegen ihrer Familie oder wegen des Abschieds von Miraj geschah.
Kapitel 18: Die Träumerin
Anne brauchte nicht lange, um sich in Silvias Haus einzugewöhnen. Mirajs Mutter erledigte ihre Hausarbeit selbst und war dankbar, wenn Anne ihr zur Hand ging. Die tägliche Routine tat Anne gut und sie freute sich, wenn sie nach getaner Arbeit Romane aus Silvias üppig ausgestattetem Bücherregal lesen konnte. Wie herrlich, eine solche Auswahl an Büchern zu haben!
Bald stellte sie auch fest, warum Silvia immer so adrett gekleidet war: Sie nähte ihre Kleider selbst und pflegte diese sogar an Markttagen teilweise zu verkaufen. Auf diese Weise sicherte Mirajs Mutter ihren Lebensunterhalt, da sie weder Felder noch Tiere besaß, sondern lediglich einen kleinen Garten, in dem sie Gemüse anbaute. Sie half Anne, die Wäsche, die sie von Jana bekommen hatte, auszubessern und brachte ihr auch bei, wie man schneiderte. Zusammen kauften sie dicke Ballen Stoff und verbrachten ganze Nachmittage damit, Anne zu vermessen, ihre Maße abzustecken und die neuen Stoffe zu bearbeiten.
Im Ring des roten Volkes ging es zu wie in einem Dorf – im Gegensatz zu Viriditas deutete hier wenig auf Zauberei hin. Und da Silvia ohnehin keine Kräfte besaß, fügte Anne sich ganz in das Leben, das ihrem alten ähnelte, und machte sich über Magie wenig Gedanken. Die Schrecken jener Nacht, in der die Schwarzmagier ihren Hof angegriffen hatten, verblassten allmählich und auch an ihren Bruder dachte Anne wenig.
Das änderte sich erst, als sie eines Nachts im Vorgarten, zwischen plattgedrückten Kräutern liegend, erwachte. Sie hatte von Henris Entführung geträumt. Im Traum war ihr der INVISIBEL-Zauber nicht gelungen und sie war gerannt, gerannt und immer weiter gerannt, bis die Magier außer Sichtweite waren. Beim Aufwachen wunderte sie sich, dass sie offensichtlich einen Teil der Strecke tatsächlich zurückgelegt hatte. Und so kam Anne zum ersten Mal der Gedanke, dass ihr Schlafwandeln mit ihren Kräften zusammenhing. Ja, vermutlich war es schon immer so gewesen.
Der Gedanke ließ ihr keine Ruhe und sie tat im weiteren Verlauf dieser Nacht kaum ein Auge zu. Am folgenden Morgen setzte sie sich an den kleinen Holzschreibtisch in ihrem Zimmer und notierte, über welche Dinge sie näher Bescheid wissen
Weitere Kostenlose Bücher