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Altstadtfest

Altstadtfest

Titel: Altstadtfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Imbsweiler
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Luft mehr bekam. Und deshalb der Schutzwall. Um wieder frei atmen zu können. Weil man nicht alles erklären und rechtfertigen wollte. Weil man eine eigene, selbstbestimmte Person war und nicht bloß Anhängsel des Partners.
    Aber diese unterschiedlichen Sichtweisen waren nicht in Deckung zu bringen, jedenfalls nicht während eines Telefonats zwischen Heidelberg und Rom.
    »Also«, hörte ich Christine sagen. »Worum geht es nun in deiner Petazzi-Geschichte?«
    »Vielleicht lassen wir es lieber. Wenn du in dem Mann nur das Opfer siehst …«
    »Nein, nur zu. Ich bin ganz gut im Abstrahieren.«
    »Nun, ich dachte, wenn du schon mal in Italien bist, könntest du dich umhören, was über Petazzi so geredet wird. Welches Bild die Leute von ihm haben. Sein Dolmetscher hier vor Ort benutzt ausnahmslos den Weichzeichner, und die Zeitungsberichte haben immer diesen offiziellen Charakter. Das Inoffizielle interessiert mich, verstehst du?«
    »Umhören? Bei wem?«
    »Bei Leuten, mit denen du in Kontakt kommst. Dein Reiseleiter, Hotelangestellte, meinetwegen auch der Kellner in dem Laden, in dem ihr euch gerade vergnügt. Dafür reicht dein Italienisch doch allemal.«
    »Gut«, sagte sie einfach. Ihre Stimme klang nicht so, als würde sie sich heute noch großartig vergnügen.
    »Wenn du keine Lust hast, lass es, Christine. Ich würde gerne wissen, auf wen ich mich da eingelassen habe. Es geht aber auch ohne.«
    »Wann soll ich mich melden? Morgen?«
    »Wann es dir passt.«
    Pause. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie versprach, meiner Bitte nachzukommen, lastete schwer auf dem Gespräch. Noch nie hatte mir Christine einen Wunsch ausgeschlagen. Nicht einmal den, uns zu trennen.
    »Petazzi ist Politiker der Lega Nord«, fuhr ich fort. »Es gibt bestimmt einige Leute, die kein gutes Haar an ihm lassen. Interessiert mich alles. Schau dem Volk aufs Maul. La bocca della verità, wie gesagt.«
    »Vox populi meinst du wahrscheinlich.«
    »Genau. Schon mal danke, Christine.«
    Sie schwieg. Nächste Unterbrechung. Mir fiel nicht ein, wie ich das Gespräch elegant beenden konnte. Das fröhliche Gemecker ihrer Reisegruppe im Off hatte etwas Spöttisches.
    »Wie ist eigentlich die Stimmung in der Stadt?«, fragte sie schließlich.
    »Wegen des Anschlags, meinst du? Ich würde es als chronisches Hyperventilieren bezeichnen. Alle geben ungefragt Kommentare, erklären sich zu Experten für Anteilnahme. Und wehe, du scherst da aus! Bevor ich mich auf die Straße traue, kontrolliere ich im Spiegel, dass sich auch ja kein Lachen in meinen Mundwinkeln versteckt hat.«
    »Hör auf«, sagte sie mit eisiger Stimme.
    »Du kennst doch die Leute. Machen wegen vier Toten einen auf Weltuntergang, aber dass sich halb Afrika wegen unseres Reichtums mit unseren Waffen abschlachtet, ist ihnen schnuppe.«
    »Du lenkst ab.«
    »Tue ich nicht.«
    »Und ob du das tust. Immer das Große und Ganze im Blick, damit man sich nicht zu den kleinen, peinlichen Gefühlen bekennen muss. Zur Betroffenheit, zur Angst, zur Trauer. Zu dem, was jeder empfindet. Weil es jeder empfindet, ist es dem Herrn Koller nämlich zu billig. Lieber nicht gemeinmachen mit der Meute, immer über den Dingen stehen. Glaub bloß nicht, ich würde in deinen zynischen Ton einstimmen oder er würde mir in irgendeiner Weise imponieren. Das Gegenteil ist der Fall: Er kotzt mich an. Er macht dich klein und hässlich.«
    »Bin ich das nicht sowieso?«
    »Nein, du Idiot.«
    »Gut, dann bin ich eben groß und hässlich. Aber zynisch, warum bin ich das, was meinst du? Ganz einfach: weil das Leben zynisch ist.«
    »Ist es nicht!«, rief sie. »Das Leben ist nicht zynisch. Nur wir sind es, die Menschen, wenn wir es so nennen.«
    »Und warum weigere ich mich, so betroffen zu sein wie der Rest der Stadt? Weil die Betroffenheit in diesen Tagen inflationär gebraucht wird, deshalb. Sie ist nichts mehr wert. Ich will nicht in jedes Mikro hineinschluchzen, wie nahe mir der Anschlag geht, weil das Tausende vor mir schon getan haben.«
    »Genau das ist dein Problem, Max. Du bist ein Egoist. Du kannst es nicht ertragen, der Tausenderste zu sein. Lieber verkneifst du dir die normalsten Dinge der Welt. Kein Wunder, dass es niemand mit dir aushält.«
    »Wenn du das sagst.«
    Ich hörte sie tief atmen. »Hast du meinen Brief gekriegt?«
    »Welchen Brief?«
    »Dann kommt er noch. Tschüss.«
    Es klickte in der Leitung, und dann war es vorbei, dieses glorreiche Telefonat mit der einzigen Frau, die mir einmal etwas

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