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Altwerden ist nichts für Feiglinge - Fuchsberger, J: Altwerden ist nichts für Feiglinge

Titel: Altwerden ist nichts für Feiglinge - Fuchsberger, J: Altwerden ist nichts für Feiglinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Fuchsberger
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das Grundstück in der Hubertusstraße, die eigentlich nur ein Hubertus Waldweg war. Ein einziges Haus stand da, sonst nichts, mitten im Perlacher Forst, Wochenenddomizil des Hippodrom-Bierzelt-Besitzers auf dem Oktoberfest. Aber nicht diese Nachbarschaft war es, warum wir uns zum Kauf entschlossen. Es war die Nähe zum Bavaria-Filmgelände, es war der damals noch erschwingliche Preis für das halbe Tagwerk, und es war - und das war eigentlich der Hauptgrund - eine stattliche Buche, kaum sichtbar inmitten von etwa hundert Fichten, die wie kahle Rasierpinsel in die Luft ragten.
    Ich weiß nicht wieso, aber von der ersten Sekunde an hatte ich eine besondere Beziehung zu diesem Baum. Er strahlte etwas aus, was ich damals nicht definieren konnte. Eine seltsame Kraft. Solange der lebt, dachte ich, lebe auch ich! Also erfreute er sich besonderer Aufmerksamkeit, vor allem beim Fällen der hundert Rasierpinsel ringsherum. Eine Holzfällergruppe aus Niederbayern machte das prächtig. Mit Ansage fällten sie einen Baum nach dem anderen auf den Zentimeter genau. Bis nur noch drei Bäume standen. Eine sehr hohe Fichte, eine schon sehr erwachsene
Birke und die Buche - und genau in die hinein fiel die Fichte und riss ein gutes Stück der linken Seite mit in die Tiefe.
    Ich kann mich nicht erinnern, je in meinem Leben, bis heute, so gebrüllt zu haben wie in dem Augenblick, als ich die schweren Äste brechen hörte und mit ihrem vollen Laub zu Boden sinken sah. Ich geriet völlig aus der Rolle und schwebte vor Wut einige Zentimeter über dem Boden, wie weiland das HB-Männchen. Die Holzfäller sahen mich betreten an und dachten wohl, ich sei übergeschnappt. Wie kann man sich wegen einem Stück Holz so aufregen?
    »Das verwächst sich«, versuchten sie mich zu trösten. Vergeblich! Mein Lebensbaum war verletzt, verschandelt, und ich war verstört. Als hätte man mir einen Arm abgeschlagen. Ich sehe die Wunde bis heute - niemand sonst sieht sie.
    Wir haben dann eine Rundbank um diesen Baum herum gebaut. Nach zehn Jahren war mein Lebensbaum so gewachsen, dass er die Bank sprengte. Vor zehn Jahren, nach drei Herzoperationen, empfahl man mir eine Schmerztherapie. Ein chinesischer Akupunkteur sah die Buche im Garten. Er sprach kein Wort Deutsch, seine Frau übersetzte: »Meine Nadeln können dir helfen, aber viel besserer Doktor
ist Baum. Umarme Baum und rede mit ihm! Sag, er soll dir Kraft abgeben. Leg die Stirn an die Rinde und hör, wie sein Blut fließt, dann spürst du auch deins und Schmerzen fliehen!«
    Ich habe das gemacht, und die Schmerzen waren wie verflogen.
    Heute ragt die Buche »Philemon« mit einem gewaltigen Stamm in den weiß-blauen Himmel, auf Augenhöhe mit der Birke »Baucis«. Wenn es mir schlecht geht, umarme ich »Philemon« und rede mit ihm. Unter seinem Blätterdach steht eine alte Holzbank, auf der ich gerne sitze und meine Altersgedanken den bemoosten Stamm entlang nach oben schicke, wo sie sich in den Ästen verlieren. Philemon wird mich überleben. Wenn nicht, könnte das auch mein Ende sein.
     
    Was aber sind meine Altersgedanken?
    Da ist der bekannte Vergleich mit den Gläsern. Der Pessimist sieht das Glas halb leer, der Optimist halb voll. Mein Glas ist halb voll. Bevor ich es bis zur Neige leere, kommt einer und schenkt nach. Auch meine Tanks, der in meinem Körper und der in meinem Auto, werden nie bis auf den letzten Tropfen leer gefahren. Bevor ich liegen bleibe, kommt immer eine rettende Tankstelle, nur an der darf ich nicht vorbeifahren.

    Das heißt, wir halten die Augen offen und sehen, was um uns herum geschieht. Wir halten die Ohren offen und hören, was für uns noch wichtig ist. Wir halten die Sinne wach und entdecken, was für uns noch neu ist. Damit haben wir genug zu tun.
    Es kommt die Zeit, da andere anfangen, darüber nachzudenken, ob du noch »zu gebrauchen« bist, ob du den »Ansprüchen noch genügst«.
    Du selbst hast da kaum Zweifel, aber die Anderen eben. Die »Anderen«, das sind die, die an den Hebeln sitzen, und die, die gut können mit denen, die an den Hebeln sitzen. Die unkündbar hinter Schreibtischen sitzen, ihre Macht genießen und darüber bestimmen, ob du ihren Ansprüchen genügst, ob du immer gefügig und gefällig warst, nie hast erkennen lassen, dass du der Meinung bist, dass sie wenig Ahnung haben von dem, was sie tun, kurz dass du immer bereit warst, aus deinem Herzen eine Mördergrube zu machen.
    Die Anderen sind die, die sich mit dem Kriterium »gut genug«

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