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Am Anfang eines neuen Tages

Am Anfang eines neuen Tages

Titel: Am Anfang eines neuen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Austin
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sein?“
    „Nein. Die meisten Menschen sind bei so schönem Juniwetter gerne draußen. Ich wundere mich, dass es dir nicht auch gefällt.“
    „Ich habe in der Armee gedient, falls du das vergessen haben solltest. Beinahe fünf Jahre lang habe ich bei jedem erdenklichen Wetter draußen gelebt. Schön ist es, ein Dach über dem Kopf zu haben und ein Bett, in dem man nachts schlafen kann.“
    Jo blieb im Schatten eines Ahornbaumes stehen und beobachtete die Arbeiter, die in der Ferne auf dem Feld arbeiteten. „Macht es dir eigentlich Spaß, so widerborstig zu sein, Harrison?“
    „Du stellst einfach so dumme Fragen! Du hast keine Ahnung, wie es für uns war.“
    „Warum erzählst du es mir dann nicht?“
    „Du würdest es nicht verkraften.“
    „Das lass mal ruhig meine Sorge sein. Erzähl mir von deinen Erinnerungen an das Kämpfen.“ Sie glaubte nicht, dass er sich darauf einlassen würde, und war überrascht, als er zu reden anfing.
    „Ich erinnere mich daran, wie trocken mein Mund war vom Aufreißen der Pulverpatronen. Dass ich kurz vor dem Verdursten war, aber nicht stehen bleiben durfte, um etwas zu trinken. Und die Erschöpfung – sie ging bis auf die Knochen. Es war kein Mut, der uns dazu brachte, in das feindliche Feuer zu marschieren oder im Artilleriebeschuss stehen zu bleiben, sondern die reine Erschöpfung. Nach einer Weile wird einem die Gefahr gleichgültig. Dir ist völlig egal, was passiert. Zu sterben scheint ein willkommener Ausweg aus dem Schrecken zu sein.
    „Ein anderer Soldat hat mir erzählt, er habe sich so an den Tod gewöhnt, dass er unvermeidlich schien, dass er sich wie ein lebender Toter gefühlt habe.“
    „Damit hatte er recht. Man gewöhnt sich sogar daran, blutige Arme und Beine überall um sich herum liegen zu sehen, Köpfe ohne Leiber, Rümpfe ohne Kopf. Und dann siehst du eines Tages auf ein zermalmtes, abgerissenes Bein herunter und stellst fest, dass es dein eigenes ist.“
    „Jetzt versuchst du aber mit Absicht, mich zu schockieren.“
    „Du wolltest es nicht anders … in den letzten beiden Kriegsjahren haben die meisten von uns nur darauf gewartet, dass sie mit dem Sterben an der Reihe sind. Es hat mich gar nicht gewundert, als ich getroffen wurde. Es schien lange überfällig.“
    „Aber du bist nicht gestorben. Du bist wieder zu Hause. Und bist du jetzt, wenn du dein Haus und all dein schönes Land siehst, nicht dankbar, am Leben zu sein?“
    „Nein. Ich habe weder den Willen noch die Kraft, wieder ganz von vorn anzufangen. Und du mit deiner dummen Einmischerei bewirkst nur, dass meine Mutter enttäuscht sein wird. Unsere Art zu leben hing von der Sklaverei ab. Wir können keinen Gewinn mit Baumwolle machen, wenn wir unsere Arbeiter bezahlen müssen. Ich weiß das und die anderen Plantagenbesitzer wissen es auch. Diese Plantage kann nie wieder aufgebaut werden, weil ich nicht genug Geld verdienen kann, um sie so zu führen wie früher. Es ist unmöglich.“
    „Also gibst du stattdessen auf?“
    „Soll ich so dämlich sein und mir all die Arbeit antun, obwohl ich weiß, dass sie sich nicht bezahlt machen wird? Oder willst du vielleicht, dass ich mir einen neuen Beruf suche? Ich kann nichts anderes und genauso geht es deinem Bruder oder jedem anderen Plantagenbesitzer und seinen Söhnen. Deine Mutter und meine – und du – erwarten Unmögliches von uns.“
    „Das stimmt nicht. Ich sage meiner Mutter immer wieder, dass die Dinge nie mehr genauso sein werden, wie sie es einmal waren, aber das bedeutet nicht, dass wir nicht wieder aufbauen sollten, was wir können.“ Einen Augenblick lang dachte sie an die Geschichte aus der Bibel, die Alexander ihr zu lesen empfohlen hatte, und daran, wie Hiob irgendwann doppelt so viel bekommen hatte wie vorher, nachdem Gott seine Prüfung beendet hatte. Wenn das doch nur auch im wahren Leben so sein könnte. Aber leider bestand die Bibel nur aus Märchen.
    Sie sah einen einsamen Reiter die Straße hinuntergaloppieren, und, als hätten ihre Gedanken ihn herbeigerufen, traf Alexander Chandler auf der Plantage ein.
    „Da ist dieser lächerliche Yankee“, sagte Harrison. „Ich wünschte, du würdest ihm sagen, er soll verschwinden und niemals wiederkommen. Er braucht nicht auf meine Arbeiter aufzupassen.“
    „Warum sagst du ihm das nicht selbst?“ Sie drehte den Rollstuhl herum und fing an, ihn in Alexanders Richtung zu schieben, aber Harrison griff hinter sich und packte Jos Arm.
    „Nein! Bleib auf der Stelle stehen,

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