Am Anfang eines neuen Tages
ihn nicht ausstehen, Dr. Hunter. Ich muss mich schon zusammenreißen, um auch nur mit ihm in einem Zimmer zu sein. Er ist so verbittert und gemein und schlecht gelaunt –“
„Ich weiß, ich weiß. Aber Sie sind außer mir der einzige Mensch, der den Mut hat, ihm die Stirn zu bieten. Das braucht er. Wenn er mit Ihnen und mir kämpft, dann kämpft er wenigstens und gibt nicht auf.“
„Sie meinen … Sie wollen , dass ich mich mit ihm streite?“
Der Arzt lächelte. „Er lässt Ihnen ja keine andere Wahl, oder?“
„Ehrlich gesagt habe ich mir Sorgen gemacht, dass es nicht besonders damenhaft ist, ihm zu widersprechen. Ich stelle mir lieber nicht vor, was meine Mutter sagen würde, wenn sie mich hören könnte.“
„Sie sind Ihrer Mutter sehr ähnlich, Josephine. Sie haben dieselbe innere Stärke und genauso viel Mut, auch wenn sich das bei Ihnen auf andere Weise äußert. Ich hoffe, Sie werden Harrison weiterhin besuchen.“
Josephine war sehr verwirrt, als sie die Stufen zum Haus hinaufging. War sie wirklich so stark wie ihre Mutter? Und wenn ja, konnte sie den Mut aufbringen, Daniel entgegenzutreten und zu riskieren, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden? Sie wurde dadurch aus ihren Gedanken gerissen, dass Mrs Blake an die Tür kam, um sie zu begrüßen. Dann folgte ein reges Treiben, während Dr. Hunter den Rollstuhl in Harrisons Zimmer schob. „Ich werde Sie nicht hinein- und hinausheben“, sagte der Arzt. „Ich werde Ihnen zeigen, wie Sie selbst mit ein bisschen Hilfe in den Stuhl kommen.“ Er forderte Harrison auf, sich auf die Bettkante zu setzen, und gab ihm dann die Anweisung, die Hände auf die Armlehne des Stuhls zu stützen, während er selbst den Stuhl vor ihm festhielt. Ausnahmsweise wehrte Harrison sich nicht gegen ihre Bemühungen und beleidigte niemanden, aber er war schweigsam und mürrisch.
„Und jetzt stehen Sie auf, drehen Sie sich herum und setzen Sie sich.“ Harrison folgte den Anweisungen des Arztes und landete mit einem Grunzen in dem Stuhl.
„Und was ist, wenn er fällt?“, fragte seine Mutter.
„Dann können Sie einen der Bediensteten holen, um ihm zu helfen.“
Harrison war so dünn wie ein Zweig und konnte unmöglich viel wiegen. Josephine erinnerte sich an den untersetzten, breitschultrigen Mann, der er vor dem Krieg gewesen war, stark und kräftig gebaut. Jetzt konnte Dr. Hunter, der viel kleiner war, ihn problemlos hochheben und tragen. Wenn der Arzt einen Vortrag über das menschliche Skelett hätte halten wollen, hätte er Harrisons hervorstehende Knochen als Anschauungsmaterial verwenden können. Trotzdem weckte Harrison nicht dasselbe Mitleid in Josephine wie Lizzie, als diese an diesem Morgen mit müden, geröteten Augen ins Esszimmer geschlichen war. Oder Roselle, die ihre Schule verloren hatte. Jo fragte sich, woran das lag.
„Wenn Sie kräftiger werden“, fuhr Dr. Hunter fort, „können Sie den Stuhl selbst bewegen, indem Sie die Räder drehen. Aber heute habe ich Josephine gebeten, Sie zu schieben.“
Der Stuhl passte gerade so durch die Zimmertür. Jo fragte sich, wie Harrison sich jetzt, wo er das trostlose Zimmer, sein selbst gewähltes Gefängnis, zum ersten Mal seit Monaten verließ, wohl fühlte. „Wohin möchtest du fahren?“, fragte sie ihn. Aber Harrison, der kein Wort gesprochen hatte, seit sie angekommen war, antwortete nicht.
„Ich finde, Sie sollten mit ihm nach draußen gehen“, sagte Dr. Hunter. „Die Hintertür dürfte einfacher zu bewältigen sein als der Haupteingang.“ Josephine schob Harrison den kurzen Flur hinunter und durch die Tür auf die Veranda hinter dem Haus. Der Arzt manövrierte den Rollstuhl über die drei niedrigen Stufen, indem er ihn nach hinten kippte und Stufe für Stufe hinunterrollen ließ. „Wir besorgen Bretter und bauen eine Rampe, damit Sie mit dem Stuhl hinein und hinaus fahren können, Harrison. Wenn Sie erst einmal kräftiger sind, können Sie irgendwann ganz auf den Rollstuhl verzichten und stattdessen an Krücken gehen.“
Harrison antwortete immer noch nicht. Hinter seinem Rücken signalisierte der Arzt Jo, ihn über den Hof zum Stall und zu den Baumwollfeldern zu schieben. Da der Boden uneben und weich war, erwies sich das als mühsame Angelegenheit, aber sie würde Harrison nicht die Genugtuung geben, sie klagen zu hören.
„Ist es nicht schön, draußen in der frischen Luft zu sein?“, fragte sie. „Die Sonne ist so warm und tröstlich.“
„Soll das ein Witz
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