Am Anfang ist die Ewigkeit
schon übergeben. Wieso hatten sie ihr das angetan? Wieso hassten sie sie so sehr, dass sie sie umbringen wollten? Noch nie im Leben hatte sie solche Qualen erlebt.
Sie richtete sich wieder auf und ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie, von ihrem dröhnenden Schädel einmal abgesehen, keine Schmerzen mehr hatte. Ãberrascht streckte sie die Hände aus. Sie sahen aus wie immer. Sie betastete das Gesicht, ihren Kopf, die Arme ⦠nichts.
Unfassbar! Es waren massenhaft Steine auf sie niedergeprasselt. Wie kam es, dass keine Prellung, nicht mal ein Kratzer zurückgeblieben war?
Sie setzte sich wieder in Bewegung, wurde immer schneller, denn sie wollte den Pier 26 nur noch so rasch und so weit wie möglich hinter sich lassen. Zehn Häuserblocks weiter entdeckte sie ein Taxi. Sie stellte sich mitten auf die StraÃe und winkte wie eine Wahnsinnige. Das Taxi hielt an, sie stieg ein und nannte dem Fahrer keuchend ihre Adresse. Dann lieà sie sich in die Polster sinken und starrte zum Fenster hinaus. Mit aller Macht versuchte sie, die Tränen zurückzuhalten.
Anabo . Alex hatte gesagt, sie sei eine Anabo. Angeblich bedeutete das »Licht« und dass sie eine Nachfahrin Auroras, der Tochter Evas, war. Eva hatte noch vor Kain und Abel eine Tochter gehabt? Bevor sie den Apfel aà und Adam in Versuchung führte? Konnte das wirklich wahr sein? Sie hatte sich schon immer gefragt, ob Adam und Eva tatsächlich gelebt hatten oder ob mit ihrer Geschichte nur die Entstehung der Sünde erklärt werden sollte.
Was für ein Irrsinn! Alex war nicht bloà ein undurchsichtiger Schweinehund, er war total verrückt. So etwas wie eine Anabo gab es nicht, sonst hätte sie bestimmt schon mal davon gehört. Wenn Eva eine Tochter gehabt hätte, wäre das dann nicht irgendwo schon mal erwähnt worden?
Vielleicht konnte sie das bei Gelegenheit nachschlagen. Im Augenblick wollte sie nur nach Hause, eine heiÃe Dusche nehmen und sich in ihrem Zimmer verkriechen.
Als das Taxi sie vor ihrem Haus absetzte, fühlte sie sich immer noch elend. Nervös stand sie im Hausflur und wartete auf den altersschwachen Fahrstuhl. Mum war um diese Zeit bestimmt schon wach. Auch wenn es sie neuerdings kaum interessierte, wo Sasha hinging ⦠dass sie erst morgens um halb sieben nach Hause kam, war ihr ganz bestimmt nicht egal.
Möglichst leise öffnete Sasha die Tür. Vielleicht konnte sie unbemerkt durch den Flur in ihr Zimmer huschen, weil Mum gerade in der Küche oder noch im Schlafzimmer war. Aber das Glück war nicht auf ihrer Seite. Mum saà im Wohnzimmer auf dem Sofa. Sie sah wahnsinnig wütend aus und vielleicht sogar ein bisschen ängstlich. Was folgte, war eine endlose Tirade auf Russisch. Das meiste verstand Sasha gar nicht. Sie konnte einfache Sätze übersetzen und sich auch ein bisschen unterhalten. Aber wenn Mum sich dermaÃen aufregte ⦠das konnte sie vergessen. Im Moment spielte es aber auch keine groÃe Rolle. Die Botschaft war eindeutig. Mum war stinksauer.
Sasha betrat das Zimmer und erst jetzt fiel ihr auf, dass noch jemand anwesend war. Ein unheimlich dicker Mann saà in Dads Lieblingssessel und starrte sie aus seinen winzigen Ãuglein an, ohne ein einziges Mal zu blinzeln.
»Mum«, platzte sie heraus. »Was ist hier los? Wer ist das?«
Ihre Mutter gab keine Antwort.
Der Mann seufzte, sodass sein Bauch zu schwabbeln begann. »Ich bin dein Onkel, Tim Shriver.«
Warum konnte sie nicht einfach nach Hause kommen, duschen und sich krank stellen, damit sie nicht zur Schule musste? Warum musste ausgerechnet jetzt ein Fettsack auftauchen, der behauptete, ihr Onkel zu sein? »Ich habe keinen Onkel.«
»Ich bin der Mann von Melanie, der Schwester deines Vaters. Mike und ich, wir haben viele Jahre lang zusammengearbeitet. Du kannst mir wirklich glauben, ich bin dein Onkel.«
Dad hatte niemals eine Schwester gehabt! Das hätte er ihr doch erzählt. »Warum waren Sie dann nicht bei seiner Beerdigung? Und wenn Dad eine Schwester gehabt hätte, wäre sie bestimmt auch gekommen.« Sasha traute niemandem mehr über den Weg. »Wer sind Sie wirklich?«
»Es stimmt tatsächlich«, sagte Mum, die den Blick jetzt starr auf den Couchtisch gerichtet hielt. Im Hintergrund liefen die Lokalnachrichten. »Wir haben uns zerstritten, schon vor langer Zeit.«
Sasha trat noch einen Schritt näher. »Wenn
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