Am Anfang ist die Ewigkeit
hoffte inständig, dass das alles nur ein Traum war. Sie war hin- und hergerissen zwischen Traurigkeit und Angst. Wenn Mum ihr alles erzählt hätte, wäre sie gestern Abend gar nicht erst zu dieser bescheuerten Versammlung gegangen, bei der sie beinahe umgebracht worden wäre. Aber als sie das leise Schluchzen ihrer Mutter hörte, tat sie ihr furchtbar leid. »Vielleicht hättest du die ganzen Briefe, Notizen und Fotos aus dem SchlieÃfach einfach verbrennen sollen.«
»Das ist mir inzwischen auch klar. Aber ich hätte niemals gedacht, dass jemand davon erfährt. Ich hatte das SchlieÃfach sogar schon fast vergessen, bis Alex aufgetaucht ist. Doch nun ist es zu spät. Wenn ich jetzt nach Genf fahre, würden sie mich verfolgen und mir die Unterlagen abnehmen, bevor ich sie vernichten könnte. Ich darf also auf keinen Fall die SchlieÃfachnummer und den Code preisgeben.« Sie hob den Blick von ihrem Koffer. »Es kann sein, dass sie die Nummer auch von dir herausbekommen wollen. Deshalb ist es besser, wenn ich dir nichts verrate.«
»Ich kapiere einfach nicht, was an diesen Unterlagen so interessant sein soll.«
Mum setzte sich auf die Bettkante. »Viel weià ich auch nicht mehr. Aber ich kann mich zum Beispiel an ein aufgezeichnetes Telefonat zwischen zwei Männern in Afghanistan und GroÃbritannien erinnern. Der Brite hat dem Afghanen den Namen eines Waffenhändlers verraten und dafür fünfzigtausend Pfund kassiert. Als das Telefonat aufgenommen wurde, war der Brite einer von vielen Mitarbeitern eines Parlamentsabgeordneten.« Mum schaute Sasha direkt in die Augen. »Aber heute, viele Jahre später, bewirbt er sich um das Amt des Premierministers. Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn dieses Tonband in die falschen Hände gerät?«
Sasha sank neben ihrer Mutter auf das Bett. »Vielleicht wäre es ganz gut, wenn die Leute wüssten, dass er ein Mistkerl ist. Dann könnte er gleich verhaftet werden.«
»Ich glaube kaum, dass das Material für eine Verurteilung ausreicht. Aber wenn diese Sache an die Ãffentlichkeit kommt, ist seine Karriere ruiniert. Wird er zum Premierminister gewählt, könnte Alexâ Chef ihn mithilfe des Tonbandes erpressen und unter Umständen Entscheidungen von ihm verlangen, die gut für Russland, aber schlecht für GroÃbritannien sind. Und das war nur eins von vielen Beispielen.«
»Vielleicht könnte ich nach Genf fahren. Mich würde bestimmt niemand verfolgen.«
Mum schüttelte heftig den Kopf und stand auf. »Kommt nicht infrage, Sasha. Das ist viel zu gefährlich.«
»Aber wenn wir dadurch verhindern können, dass du von Alexâ Chef oder irgendwelchen anderen Leuten in Russland unter Druck gesetzt wirst, wäre es dann nicht das Risiko wert?«
»Mit denen werde ich schon fertig. Aber wenn dir etwas zustoÃen würde, könnte ich mir das niemals verzeihen. Das ist keine Lösung, Sasha, also vergiss es.« Sie bückte sich, nahm ein Abdeckgitter vom Lüftungsschlitz knapp über dem Boden und steckte die Hand in das Loch in der Wand, um eine weiÃe, ungefähr sechzig Zentimeter lange Plastikröhre herauszuholen. Sie richtete sich auf und gab sie Sasha. »Darin ist das Gemälde, das ich in Wladiwostok gefunden habe. Pass gut darauf auf und zeig es niemandem, ganz besonders nicht Tim. Er würde es sonst verkaufen oder einem Museum überlassen, und das darf auf keinen Fall passieren. Hast du mich verstanden?«
Sasha nickte, während sie die Röhre mit beiden Händen fest umklammert hielt.
»Als ich es Alex gezeigt habe, begann plötzlich die Farbe abzublättern. Deshalb habe ich es in eine Schutzhülle einschweiÃen lassen. Am besten, du lässt es einfach in der Röhre und suchst ein sicheres Versteck dafür.«
»Wenn es so wertvoll ist, warum verkaufen wir es dann nicht? Wir könnten mit dem Geld irgendwo untertauchen, vielleicht in Südamerika.«
»Wir dürfen es nicht verkaufen, niemals! Für uns besitzt es nicht als Kunstobjekt einen unschätzbaren Wert.« Katya zitterte unter dem Ansturm ihrer Gefühle und drückte ihre Tochter fest an sich. »Ich liebe dich über alles, Alexandra.«
Mit der Röhre in einer Hand klammerte sich Sasha an ihre Mutter, während ihr Herz in eine Milliarde kleine Splitter zu zerspringen drohte. Sie hatte solche Angst â
Weitere Kostenlose Bücher