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Am Dienstag sah der Rabbi rot

Am Dienstag sah der Rabbi rot

Titel: Am Dienstag sah der Rabbi rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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konnte er sogar einmal nachmittags schwänzen und eine Partie Golf einplanen. Sie waren beide leidenschaftliche Golfspieler.
    Sie würde die Rolle der Dame des Hauses übernehmen, und dann konnte er endlich wieder private Einladungen geben, die nichts mit dem Beruf zu tun hatten, und die er seit dem Tod seiner Frau so vermisst hatte. Natürlich, Betty war noch jung – fünfunddreißig – und nach einiger Zeit würde sie ihren eigenen Kreis finden, jüngere Leute, deren Interessen sich nicht mit seinen deckten. Aber noch nicht gleich. Nach der unglücklichen Ehe würde sie sicher erst einmal Ruhe und Frieden haben wollen.
    Aber es kam leider nicht so. Sie traf am frühen Abend ein. Ihre Maschine war mit Verspätung abgeflogen und hatte dann fast eine Stunde auf die Landeerlaubnis warten müssen. Der fröhliche Tonfall vom Anruf aus Reno war fort; sie war müde und schlecht gelaunt.
    «Diese widerliche Fliegerei!», rief sie zur Begrüßung. «Ich hatte gehofft, ich könnte mich noch ein bisschen hinlegen, und jetzt bleibt mir kaum Zeit zum Duschen und Umziehen.»
    «Meinetwegen brauchst du dich nicht umzuziehen», sagte ihr Vater. «Mrs. Childs hat uns was zu essen gemacht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich darauf freue, mal wieder in Ruhe mit dir zu reden und alles Neue zu hören.»
    Sie war zerknirscht. «O Dad, das tut mir Leid, aber die Sorensons erwarten mich zum Essen. Sie haben noch andere Gäste. Es soll eine Art Freiheitsparty für mich sein – weißt du, zur Feier meiner Scheidung. Und Gretchen hat gesagt, es käme ein fabelhafter Mann, den ich unbedingt kennen lernen müsste.»
    Auch im Laufe der Zeit wurde das nicht viel anders. Er sah kaum mehr von ihr, als in der Zeit ihrer Ehe, als sie in einem entfernten Vorort wohnte. Sie ging fast jeden Abend aus, und selbst wenn sie mit ihm zu Abend aß, schien sie immer in Eile zu sein.
    «Hör mal, Betty», sagte er leicht vorwurfsvoll, «musst du schon wieder ausgehen?»
    «Das kann ich nicht ändern, Dad. Ich hab es versprochen.»
    «Aber du bist in dieser Woche an jedem Abend ausgegangen.»
    «Dad, ich bin fünfunddreißig –»
    «Das weiß ich. Ich will ja auch nicht den strengen Familienvater spielen, aber …»
    «Du bist ganz rührend, Dad, aber du musst verstehen, dass ich den Rest meines Lebens nicht allein verbringen will. Ich möchte wieder heiraten, und gerade weil ich fünfunddreißig bin, kann ich keine Zeit verschwenden.»
    Er war altmodisch und die Krassheit, mit der sie ihm ihre Lage erklärte, machte ihn etwas befangen. «Ja, natürlich, ich möchte auch, dass du wieder heiratest, Betty. Wahrscheinlich bin ich auch ziemlich egoistisch, aber ich hatte gehofft, wir könnten manchmal abends zusammensitzen, nur wir beide. Weißt du, der Präsident eines College ist wie wahrscheinlich jeder andere Präsident auch ein ziemlich einsamer Mann. Er muss so viele Entscheidungen treffen, und fast jeder, an den er sich um Rat wendet oder mit dem er etwas besprechen möchte, bringt seine privaten Interessen ins Spiel.»
    Sie lachte. «Armer Dad. Gut, morgen bleibe ich zu Hause und – au, morgen kann ich nicht, und Donnerstag auch nicht. Am Freitag vielleicht?»
    Das Wochenende kam natürlich nicht in Frage, weil sie da nach New Hampshire fahren musste, um ihren Sohn Billy im Internat zu besuchen.
    6
    Am Montag mussten die Studenten sich einschreiben; die Kurse begannen am Dienstag, und daher war am Mittwochmorgen die erste Vorlesung von Philosophie, Nr. 268, Jüdisches Denken und Jüdische Philosophie: Mo. u. Mi. 9 Uhr, Fr. 13 Uhr, Verwaltungsgebäude, Zimmer 22 (3 Punkte werden auf das Pensum angerechnet).
    Um Viertel vor neun trafen die ersten ein. Die Studenten aus dem ersten Semester prüften die Nummer auf ihrem Stundenplan nach; die älteren Semester sammelten sich in einer Ecke.
    «He! Hallo, Harvey!» Ein großer, überschlanker Junge in gelb karierter Hose, dunkelrotem Hemd und gelbem Seidenhalstuch tauchte unter der Tür auf und wurde sofort von der Gruppe in der Ecke begrüßt. «Wie steht’s denn so?»
    «Hast du den Kurs auch belegt?»
    Harvey sah sich nach allen Seiten um, um festzustellen, ob hübsche neue Mädchen aufgetaucht seien, und schlenderte dann herüber. «Na sicher hab ich belegt.» Harvey Shacter parkte sein elegant gekleidetes Hinterteil auf der Armlehne von Lillian Dushkins Stuhl. «Könnt ihr euch vorstellen, dass Onkel Harvey auf drei geschenkte Punkte verzichtet? Kennt ihr Cy Berenson? Der hat die Vorlesung

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