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Am Dienstag sah der Rabbi rot

Am Dienstag sah der Rabbi rot

Titel: Am Dienstag sah der Rabbi rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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anderen her die Treppen hinunter.
    Sie trennten sich am Charles-Street-Bahnhof. Yance und Abner gingen auf den oberen Bahnsteig, während O’Brien in die Innenstadt zurückkehrte. Nach einem kurzen Stück Weg ging Mike in einem Drugstore in die Telefonzelle. Er zog die Tür fest hinter sich zu und wählte. Es klingelte sicher sechsmal, ehe abgenommen wurde. «Ja?»
    «Ist Aggie da?», fragte O’Brien.
    «Aggie wer?»
    «Einfach nur Aggie. Ob sie da ist, möchte ich wissen?»
    Er wartete, dann kam eine neue Stimme. Die Stimme eines Mädchens. «Hallo, bist du das?»

11
    Rabbi Small sah den Freitags-Vorlesungen mit wenig Vorfreude entgegen, obwohl er jedes Mal hoffte, diesmal das volle Kontingent vorzufinden. Und jedes Mal war er dann wieder enttäuscht.
    Er wusste zwar, dass er unvernünftig reagierte, konnte sich aber eines gewissen Ressentiments nicht erwehren. Am Freitag, dem 13., war es auch nicht anders: Ein Dutzend Studenten war da, und er war ärgerlich. Er schloss die Tür hinter sich und stieg ohne ein Wort der Begrüßung auf das Podest.
    Er nickte flüchtig, kehrte ihnen den Rücken zu, um die Aufgabe an die Tafel zu schreiben, drehte sich wieder um – und glaubte seinen Augen nicht zu trauen: die Hälfte der Anwesenden war fort. Dann stellte er fest, dass sie nicht hinausgegangen waren, sondern in den Gängen zwischen den Tischen auf dem Fußboden saßen.
    Er war zu keinen Scherzen aufgelegt; das war er freitags nie. «Ich darf doch sehr bitten!», rief er.
    Sie reagierten nicht. Die, die noch auf den Stühlen saßen, senkten den Blick auf die aufgeschlagenen Hefte; keiner wollte ihm in die Augen sehen.
    «Bitte, setzen Sie sich auf die Stühle.»
    Sie rührten sich nicht.
    «Ich kann nicht unterrichten, wenn Sie auf der Erde sitzen.»
    «Warum nicht?» Harry Luftig fragte das vom Fußboden aus – nicht frech, nein, durchaus höflich.
    Einen Augenblick wusste der Rabbi nicht, was er sagen sollte. Dann kam ihm eine Idee. «Auf dem Fußboden zu sitzen ist bei uns Juden ein Zeichen der Trauer. Die Frommen sitzen während der siebentägigen Trauerzeit auf dem Fußboden. Wir tun das auch am 9. Aw, dem Tag der Zerstörung des Tempels. In der Synagoge sitzen wir auf niedrigen Hockern und rezitieren aus dem Buch Jeremia. Jetzt aber ist Freitagnachmittag, und der Sabbat beginnt bald. Trauern ist am Sabbat ausdrücklich verboten.»
    Natürlich dauerte es noch Stunden bis zum Sabbat, aber er spähte durch die dicken Brillengläser auf sie hinunter, um festzustellen, ob sie seine Erklärung als gesichtwahrenden Ausweg aus ihrem albernen Scherz akzeptieren würden. Er glaubte, einer wäre gerade im Begriff aufzustehen, aber er veränderte nur seine Stellung.
    Plötzlich war er wütend – und verletzt. Das waren keine Kinder mehr. Warum sollte er sich mit dem abfinden müssen? Ohne ein weiteres Wort nahm er seine Bücher auf und ging hinaus.
     
    Er marschierte energisch durch den Flur, seine Schritte widerhallten hohl im stillen Haus. Mit finsterem Gesicht stand er vor seinem Büro, schloss auf und ging hinein.
    Er war überrascht, nicht sehr freudig, Professor Hendryx im Drehstuhl liegend und telefonierend vorzufinden.
    Er winkte dem Rabbi mit der freien Hand zu, beendete das Gespräch, richtete sich zum Sitzen auf und legte den Hörer auf die Gabel.
    Er warf einen Blick auf die Uhr. «Viertel nach eins. Haben Sie jetzt keinen Unterricht?»
    Der Rabbi zog den Besucherstuhl vor und setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch. «Ja, das hatte ich. Ich bin einfach rausgegangen.»
    Hendryx grinste. «Was ist passiert? Haben sie versucht, Sie aufs Kreuz zulegen?»
    «Ich weiß nicht, was sie versucht haben», sagte der Rabbi entrüstet, «aber was es auch war, ich fand ihr Benehmen einer Vorlesung nicht angemessen.»
    «Was haben sie denn gemacht?»
    Der Rabbi erzählte es ihm und sagte abschließend: «Nachdem ich mir durch die religiöse Deutung schon eine Blöße gegeben hatte, blieb mir keine Wahl.»
    «Aber sie haben Ihnen das nicht abgekauft?»
    «Leider nein. Keiner ist vom Fußboden aufgestanden.»
    «Und dann sind Sie rausgegangen.»
    Der Rabbi nickte. «Ich wusste nicht, was ich sonst hätte machen sollen.»
    «Sie waren gestern nicht hier, Rabbi?», fragte Hendryx, scheinbar vom Thema abweichend.
    «Nein. Ich komme nur zu meinem Kurs. Was war gestern?»
    Professor Hendryx holte die Pfeife heraus und stopfte sie aus der Tabakdose auf dem Tisch. «Eigentlich hat es schon am Mittwoch begonnen.» Er rieb

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