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Am Dienstag sah der Rabbi rot

Am Dienstag sah der Rabbi rot

Titel: Am Dienstag sah der Rabbi rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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ein großes Streichholz an der Unterseite der Schreibtischplatte an und hielt es über die Pfeife, an der er sanft zog. Dann fuhr er fort: «Am Mittwoch berichteten die Zeitungen über einen Besuch des Bürgerausschusses für Strafrechtsreform im Norfolk-Jugenderziehungsheim für Jungen. Sie fanden die üblichen, beklagenswerten Bedingungen vor: Überbelegung, zerbrochene Fensterscheiben, Toiletten mit kaputter Spülung, Schaben in der Küche. Der Leiter der Anstalt gab die üblichen Entschuldigungen ab: zu wenig Geld, zu wenig ausgebildetes Personal, keine einheitliche Führung. Etwas allerdings war neu seit ihrem letzten Besuch. Im Aufenthaltsraum gab es keine Stühle, und die Insassen mussten auf dem Fußboden sitzen. Der Anstaltsleiter erklärte, er habe die Stühle hinausbringen lassen, weil sie in der Woche davor bei einer Revolte als Waffen verwendet worden seien. Die meisten Mitglieder des Ausschusses kauften ihm das nicht ab. Sie wiesen darauf hin, dass kein Teppich auf dem Fußboden liege, dass es kalt und zugig und die Gesundheit der kleinen Schurken in Gefahr sei, na und so weiter. Haben Sie das denn nicht gelesen?»
    «Ja, aber was hat das mit meinen Studenten zu tun?»
    «Darauf komme ich gleich.» Er paffte vor sich hin. «Präsident Macomber ist Mitglied dieses Ausschusses, und er war einer der wenigen, die nicht nur nicht protestierten, sondern den Anstaltsleiter auch noch unterstützten. Folglich beschlossen unsere Studenten am nächsten Tag – das war gestern –, bis zum Ende der Woche in allen Vorlesungen aus Protest gegen ihren Präsidenten auf dem Fußboden zu sitzen.»
    «Haben sie das bei Ihnen auch gemacht? Was haben Sie unternommen?»
    «Ach, ich habe es gar nicht beachtet. Ich habe mit der Vorlesung fortgefahren. Einige von den Lehrern haben sarkastische Bemerkungen gemacht, aber natürlich ohne Erfolg.» Hendryx lachte. «Ted Singer – der Soziologe, wissen Sie – hat gesagt, da es sowieso auf der Welt drunter und drüber ginge, sollten sie sich anpassen und sich gleich auf den Kopf stellen. Eines der Mädchen hat ihn beim Wort genommen und sich bis zum Ende der Stunde, zehn Minuten lang, sagt er, auf den Kopf gestellt. Vermutlich betreibt sie Yoga.» Er zeigte beim Lächeln ebenmäßige weiße Zähne. «Der Rock ist ihr natürlich heruntergerutscht, aber laut Singer trug sie leider eine von diesen Strumpfhosen, sodass nichts zu sehen war.»
    Der Rabbi hatte den Verdacht, dass die Geschichte aufgebauscht sei, um ihn in Verlegenheit zu bringen. Vermutlich weil er ein Rabbi war, machte sein Kollege absichtlich anzügliche Bemerkungen und wartete dann auf seine Reaktion. «Sind Sie sicher, dass es nur für diese Woche geplant ist?»
    «Soviel ich weiß, ja. Warum?»
    «Weil ich einschreiten werde, wenn es länger dauert.»
    Hendryx sah ihn erstaunt an. «Warum das? Warum macht es Ihnen was aus?»
    «Es macht mir was aus.» Er warf einen Blick auf die Uhr. «Ich gehe am besten gleich zu Dean Hanbury.»
    Hendryx starrte. «Und wozu das?»
    «Na ja, ich habe schließlich den Vorlesungsraum verlassen.»
    «Rabbi, lassen Sie mich Ihnen die Geheimnisse des akademischen Lebens erklären. Dem Dean ist es absolut schnurz, wenn Sie gelegentlich aus einer Vorlesung davonlaufen oder etwa gar nicht erst kommen. Was Sie während Ihrer Stunden tun, geht nur Sie was an. Im vorigen Jahr hat Professor Tremayne mitten im Februar eine dreiwöchige Lektüreperiode anberaumt und ist nach Florida gefahren. Nun ist Tremayne allerdings die Art von Pädagoge, die den Studenten durch ihre Abwesenheit mehr Gutes antut als durch ihre Gegenwart.»
    «Trotzdem meine ich, ich sollte es ihr mitteilen. Im Übrigen muss ich auch die für Mitte des Semesters fällige Meldung der Studenten mit ungenügenden Leistungen machen.»
    Hendryx pfiff durch die Zähne. «Wollen Sie das wirklich, nach allem, was ich Ihnen gesagt habe?»
    «Ich habe in der letzten Woche eine Mitteilung bekommen, die Listen müssten bis zum kommenden Montag eingereicht werden.»
    «Rabbi, Rabbi», sagte Hendryx, «wann batten Sie zum letzten Mal mit einem College zu tun?»
    «Ich habe Hillel-Gruppen unterrichtet.»
    «Nein, ich meine eine richtige Beziehung zu einem College.»
    «Nicht seit meiner Studentenzeit vor fünfzehn, sechzehn Jahren. Warum?»
    «Weil sich in den letzten sechzehn Jahren – was sage ich, in den letzten sechs – alles verändert hat. Wo sind Sie gewesen? Lesen Sie denn keine Zeitungen?»
    «Aber die Studenten

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