Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende der Nacht

Am Ende der Nacht

Titel: Am Ende der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
aber dann überlegte er es sich anders und ließ sich die Berührung
gefallen. »Kein Grund zur Sorge, Kiddo«, übernahm ich automatisch Mattys
Anredeform. »Aber wo wir jetzt gleich bei meinen Freunden sind, will ich dich
lieber vorwarnen: Betrachte dieses Wochenende am besten als eine interessante
Begegnung mit einer Art primitiver Kultur.«
     
    Schrille Little-Savage-Schreie brachen
los, als Hy uns die Tür des Hauses aus Redwood und Glas auf dem Steilufer über
dem Strand von China Beach öffnete. Ich hatte mir schon gedacht, daß er vor uns
dasein würde, weil ich seine Citabria auf dem Abstellplatz von Oakland gesehen
hatte, und der Anblick seines uralten Morgan, der normalerweise in einer Garage
beim Flughafen stationiert war, draußen am Bordstein hatte meine Vermutung
bestätigt. Sein verzweifelter, leicht irrer Blick und die Art, wie er sich mit
den Fingern durch die dunkelblonde Haarmähne fuhr, sagten mir, daß er wünschte,
er wäre auf seiner Ranch geblieben.
    Ich hatte ihn seit Wochen nicht mehr
gesehen und wollte die Arme um seinen Nacken schlingen und mich eng an seinen
langen, schlaksigen Körper pressen, wollte diese Lippen küssen, die jetzt
gerade einen verkniffenen Strich unter dem struppigen Schnauzbart bildeten.
Statt dessen machte ich ihn mit Zach bekannt.
    Er gab dem Jungen die Hand und erklärte
ihm, er sei ein alter Freund von Matty. Er wollte noch etwas hinzusetzen, doch
wildes Gekreische schnitt ihm das Wort ab, und Füße trappelten durch die Diele
hinter ihm. Kurz nachdem der Lärm verhallt war, erschien Rae und lugte um ihn
herum. Ihr sommersprossiges Gesicht war gerötet, und ihre langen goldroten
Locken lösten sich aus dem Kamm, der sie im Zaum halten sollte.
    Sie sagte: »Little Savages ist
allerdings der passende Name.« Zach und ich traten ein, und es gelang mir, ihm
Rae vorzustellen, ehe zwei flachsköpfige Mädchen — elf und neun — aus dem
Wohnzimmer und durch die Bogentür der Küche stürmten und mich im Vorbeisausen
johlend begrüßten. Meine Nichten Molly und Lisa. Rae faßte sich an die Stirn
und musterte Zach besorgt, als erwarte sie, daß er sich der wilden Jagd
anschlösse. Seine stille Art schien sie jedoch zu beruhigen, und sie sagte:
»Lisa und Molly haben entdeckt, daß diese offene Architektur eine hervorragende
Rennbahn abgibt. Ich habe Kopfschmerzen, und Ricky hat sich über den Gin hergemacht,
also könnt ihr euch denken, wie der Abend verläuft.«
    »Wie geht Habiba mit all dem um?«
    »Sie sitzt still und beobachtend da,
als sei sie das erstemal im Zirkus und ziemlich überzeugt, daß es ihr nicht
gefällt.«
    Hy steuerte in Richtung Küche. Als wir
ebenfalls dort ankamen, hatte er sich ein Bier aufgemacht — und nicht das
erste, wie ich der Zahl der leeren Flaschen in der Altglastonne entnehmen
konnte. Der Raum war groß, mit handgemachten Kacheln, Dielenboden und einer
Hackblock-Arbeitsinsel in der Mitte. An dieser lehnte Ricky und hielt sich an
einem üppigen Martini fest. Habiba, die ihn als eine ihrer Vaterfiguren
adoptiert hatte, saß dicht neben ihm auf einem Hocker. Ais er mich umarmen
wollte, hakte sie einen Finger in seine Gürtelschlaufe, als hätte sie Angst, er
könne ihr entschwinden. Ihre dunklen Augen unter dem dicken schwarzen Pony
waren ein bißchen glasig.
    Rickys Blick ähnelte dem von Habiba,
und sein dichtes, kastanienbraunes Haar war ebenso zerzaust wie das von Rae.
Sein hübsches Gesicht war von Leidensfalten zerfurcht, und als jetzt ein
neuerliches Kreischen aus dem Wohnzimmer herüberschallte, erschauerte er. Trotz
seines offenkundigen Unbehagens mußte ich lächeln. Mr. Savage, der Superstar,
hatte sich sichtlich in etwas hineinmanövriert, was er jetzt bereute. Ich
wandte mich ab und umarmte Habiba, die mich ungewöhnlich fest umklammerte.
    Die neunjährige Habiba und ich waren
enge Freundinnen, auf eine Art, die die dreißig Jahre Altersunterschied aufhob.
So etwas kommt vor, wenn man mit einem Menschen Schlimmes durchgemacht und ihn
dabei durch und durch kennengelernt hat. Die Kleine war klug und couragiert —
aus bestem Holz geschnitzt.
    Ich hatte Zach gerade allen Anwesenden
vorgestellt, als eine neue Welle tobender kleiner Mädchen über die Küche
hereinbrach. Hy, Habiba, Zach und ich fuhren zusammen.
    Rae sah Ricky verzweifelt an: Tu
was! Er guckte so hilflos zurück, daß niemand auf die Idee gekommen wäre,
er hätte je mit einem Kind zu tun gehabt — geschweige denn mit sechsen. Und da
warf Rae die Arme in die

Weitere Kostenlose Bücher