Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende der Nacht

Am Ende der Nacht

Titel: Am Ende der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
Anwaltsgeheimnis ausgewichen, was ihn dazu
getrieben hatte, mir ein Ultimatum zu setzen: Ich solle ihm genau erzählen, was
ich über Fullers Verbleib wisse, oder sofort aus seinem Zuständigkeitsbereich
verschwinden. Ich hatte — völlig wahrheitsgemäß — geantwortet, daß ich nicht
die leiseste Ahnung hätte, wo Fuller stecke. Gifford hatte mir nicht geglaubt
und mir die Tür gewiesen.
    Als ich in meinem gemieteten Ford den
Parkplatz der Polizeiwache verließ, fuhr ein Streifenwagen an und folgte mir.
Offenbar sollte er mich aus der Stadt eskortieren. Ich fuhr ein paar
Querstraßen weiter und franste mich dann zu dem Highway durch, der zum Flughafen
von Fort Myers führte. Eine elegante weiße Brücke schwang sich über den Fluß;
als ich am höchsten Punkt ankam, sah ich den Streifenwagen an den Rand
hinüberziehen und wenden. Gifford mochte meinen Worten nicht geglaubt haben,
aber seine Beamten hatte mein Tun offensichtlich überzeugt. Ich fuhr weiter
über die Brücke, fand meinerseits eine Wendemöglichkeit und fuhr nach Gulf
Haven zurück.
    Die Hauptstraße hatte mehr von einer
Strip Mall als von einem Ortszentrum. Die Häuser waren niedrige, pastellfarbene
Quader, keines höher als drei Stockwerke, bis auf ein Bankgebäude, das alles
überragte und irgendwie deplaziert wirkte. Unbebaute, sandige Grundstücke
verrieten mangelnde Planung oder vielleicht auch mangelnden Cash-Flow auf
seiten der Baugesellschaft, und die spillerigen Palmen auf den Gehwegen waren
gelbblättrig und vertrocknet, als hätten sie eine Krankheit. Auf der Herfahrt
vom Flughafen hatten mich die flache Landschaft und die karge Vegetation
deprimiert, jetzt gab dieser Ort meiner Stimmung den Rest. Mit einem Auge nach
Streifenwagen ausspähend, hielt ich in einer Parklücke und konsultierte die
Karte, die die Mietwagenfirma mitgeliefert hatte. Dann machte ich mich auf den
Weg zu dem ehemaligen Wohnviertel der Fullers.
    Die Anwohner des Gulf Breeze Drive
schienen den Kampf gegen braune Rasenstellen und kränkelnde Pflanzen verloren
gegeben zu haben. Die einstöckigen, pastellfarbenen Einfamilienhäuser lagen an
einem schmalen Kanal, und an vielen Anlegern waren Segel- oder Motorboote
vertäut. Das ehemalige Fullersche Haus — Nummer 318 — hatte einen von
Orangenbäumen flankierten Eingang. Die Früchte verfaulten überwiegend am Boden
und verströmten einen ekelerregend süßlichen Geruch. Ich läutete, aber niemand
machte auf.
    Im rechten Nachbarhaus reagierte eine
junge Frau auf mein Klopfen an die Fliegentür. Nein, beschied sie mich, die Fullers
habe sie nicht gekannt; sie und ihr Mann seien erst vor einem Jahr aus Brooklyn
hergezogen. »Versuchen Sie’s mal bei Mr. Simmons«, sagte sie. »Nummer
dreihundertsechzehn. Der ist Rentner und wohnt schon ewig hier.«
    Mr. Simmons wirkte nicht alt genug, um
Rentner zu sein, geschweige denn, »schon ewig« irgendwo zu wohnen. Fit und
sonnengebräunt, nur in Shorts und Bootsschuhen, war er bestimmt keinen Tag
älter als fünfzig. Als ich ihm das Foto von John Seabrook zeigte, sagte er, ja,
an die Fullers erinnere er sich. Er führte mich in ein großes, grünweißes
Wohnzimmer, wo trotz der relativen Kühle ein Deckenventilator emsig kreiste.
Hinter einer Glastür glitzerte ein Pool in der Sonne, und auf dem Kanal
dahinter schaukelte ein Kajütboot im Kielwasser eines davonzischenden
Motorboots.
    Simmons sagte: »Ich wollte mir gerade
ein Bierchen genehmigen. Trinken Sie eins mit?«
    »Gern, danke.« Ich folgte ihm in die
angrenzende Küche und sah zu, wie er zwei Dosen öffnete und das Bier in
Pilsgläser umgoß. Ein Topf mit etwas, was wie Sauce Marinara roch, köchelte auf
dem Herd vor sich hin; aus einem Kofferradio kam klassische Musik. Simmons
bedeutete mir, an dem weißen Rattanfrühstückstisch Platz zu nehmen, und stellte
ein Glas vor mich hin. »Und warum suchen Sie Ron und Billy?« fragte er.
    Sein Ton war warm gewesen, als er
gesagt hatte, er erinnere sich an sie. Die Schuldnersuch-Story würde unser
Verhältnis trüben. Also lieferte ich ihm eine verkürzte Version der Wahrheit: Fuller
sei verschwunden und habe seinen Sohn allein zurückgelassen, weshalb man mich
beauftragt habe, ihn ausfindig zu machen. »Sehr oft«, sagte ich, »liegt der
Schlüssel zur Gegenwart eines Menschen in dessen Vergangenheit. Was können Sie
mir über die Fullers erzählen?«
    »Tja, Sie wissen, wie Marie ums Leben
gekommen ist?« Natürlich erinnerte er sich daran am besten. »Ja.

Weitere Kostenlose Bücher