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Am Ende der Nacht

Am Ende der Nacht

Titel: Am Ende der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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solange Winthrop Reade nicht
dabei war. Wir machten Small talk: Ob ich das erstemal in Arkansas sei? Ja. Wie
ich es hier fände? Wirklich ausgesprochen hübsch. Ich musterte die Bibliothek
des großen Kalksteinhauses an der Hauptstraße von Aida: Wo die Wände nicht von
Einbauregalen voller Bücher über Flugzeuge und Fliegerei bedeckt waren, hingen
lauter gerahmte Fotos — der Duncan-Stirling-Gedenkschrein, von dem Iona Fowler
gesprochen hatte.
    »Darf ich mal schauen?« fragte ich und
deutete auf die Fotos. »Bitte sehr.«
    Ich stand auf und ging zur
gegenüberliegenden Wand. Auf einem Abzug im DIN-A4-Format posieren beide
Stirlings nebeneinander in Jägerkluft und mit Gewehren. »Was haben Sie da
gejagt?« fragte ich.
    »Rotwild. Das war unser letzter
gemeinsamer Jagdausflug vor meinem Unfall. Sie wissen von meinem Unfall?«
    »Ja.«
    »Diese verdammten nutzlosen Beine!
Harter Schlag, um neun Uhr morgens von einem besoffenen Hinterwäldler zum
Krüppel gefahren zu werden. Ein Flugzeugabsturz — das hätte ich noch
verstanden. Ich war Kampfflieger in Korea, habe jeden Flugzeugtyp meiner Firma
persönlich getestet; wenn ich gewußt hätte, daß ich so enden würde, dann wäre
ich mit einer Silver Star über den Golf von Mexiko rausgeflogen und einen
stolzen Fliegertod gestorben.«
    Silver Star — Mattys Maschine. Ihr Ende
war kein stolzer Fliegertod gewesen. Dennoch verstand ich Stirlings Wüten gegen
das reduzierte Leben, zu dem er verdammt worden war. Ich hatte mich oft
gefragt, was ich wohl für ein Mensch werden würde, wenn ich aus irgendeinem
Grund nicht mehr in der Lage wäre, meiner Arbeit, der Fliegerei und meinen
sonstigen Aktivitäten nachzugehen. Keiner, der das mit Fassung tragen oder
anderweitig kompensieren würde, fürchtete ich, und ganz bestimmt eine Plage für
die, die mir nahestanden.
    »Ich verstehe, was Sie meinen, Mr.
Stirling. Wo ist dieses Bild aufgenommen worden?«
    »Nord-Michigan, in einem unserer
Jagdcamps. Wir waren jedes Jahr dort, zur Eröffnung der Rotwildjagd.«
    »Hatten Sie und Ihr Sohn viele
gemeinsame Interessen?«
    Die Frage schien ihn aus dem Konzept zu
bringen. Er schob die Lippen vor und zog die Augenbrauen zusammen. »Nun ja, die
Jagd. Und ich habe ihn fliegen gelehrt, sobald er an die Pedale kam.
Ansonsten...« Er zuckte die Achseln und wich meinem Blick aus. »Duncan hatte
sein Leben, ich hatte meins. Das ist normal und gesund.«
    Kommt darauf an, worin dieses Leben
jeweils besteht. »Seine Mutter —«
    »Starb, als er noch ein Baby war. Ich
habe ihn allein großgezogen, mit Hilfe diverser Kinderfrauen. Das war nicht
einfach; ich bin mit Vierzig zum ersten Mal Vater geworden.«
    »Er ist ihr einziges Kind?«
    »Ja.«
    »Und er hat nie geheiratet?«
    »Irgendwann hätte er’s schon getan. Die
Frauen waren scharenweise hinter ihm her.«
    »Ehe Sie ihm die Firmenleitung
übertragen haben, war er in der Marketingabteilung tätig?«
    »Ja. Darauf hatte er sich schon während
des Studiums spezialisiert.«
    »An der Universität in Fayetteville?«
    »Ja, meiner alten Alma mater. Er —«
    Die Tür ging auf, und herein trat ein
untersetzter Mann im blauen Anzug. Winthrop Reade sah genauso aus, wie ihn Gray
Selby beschrieben hatte: gebrochene Nase, Narbe am Kinn, dicke, silbergraue
Haarmähne. Unter dem gutgeschnittenen Anzug wölbten sich kräftige Muskeln, als
mache er jeden Tag Krafttraining. Die Augen, die Selby durch die Sonnenbrille
nicht hatte sehen können, waren von einem merkwürdigen Hellgrau, passend zu seinem
Haar. Wenn sie sich bewegten, schienen sie zu changieren.
    David Stirlings Gesicht belebte sich,
als er seinen geschäftsführenden Direktor begrüßte. »Win, danke, daß du
gekommen bist. Diese Dame hier ist die kalifornische Privatdetektivin, von der
ich dir erzählt habe, Sharon McCone.«
    Reade wandte sich mir zu und musterte
mich mit einem raschen Blick von Kopf bis Fuß. Er streckte mir die Hand hin und
drückte meine so fest, daß es weh tat. »Sehr erfreut, Ms. McCone.« Dann gab er
meine Hand wieder frei und ließ sich schwer in einen braunen Ledersessel
fallen. Das Mädchen erschien und goß Tee ein; Reade nahm eine Zitronenscheibe
und wedelte alle sonstigen Offerten beiseite.
    Zu Stirling sagte er: »Tut mir leid,
daß ich so spät komme, David. Die Produktionsbesprechung hat sich hingezogen,
ein Problem mit der neuen 380. Aber das ist gelöst, lohnt sich nicht, näher
drauf einzugehen.« Nachdem er von seinem Tee getrunken hatte, wandte er sich

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