Am Ende der Treppe, hinter der Tür (German Edition)
Unter einem Baum mit bemoostem Stamm liegen angefaulte Äpfel. Sie erinnert sich, den Baum bei ihrem Besuch am Sonntag aus dem Wohnzimmerfenster gesehen zu haben. Es kommt ihr vor, als sei das Monate her und nicht erst fünf Tage.
Sie geht nicht die Stufen hoch, sondern steigt auf die seitliche Brüstung und schiebt sich an der Hauswand entlang, um durch die Terrassentür einen Blick ins Wohnzimmer werfen zu können. Das Erste, was sie sieht, ist der flimmernde Fernseher. Und vor dem Fernseher sitzt – Poppy!
Martha ist so erleichtert, dass sie am liebsten laut lachen möchte.
Miller ist nirgendwo zu sehen.
Die Terrassentür ist von außen nicht zu öffnen. Leise klopft Martha an die Scheibe. Doch Poppy ist so absorbiert von dem, was da auf dem Bildschirm passiert, dass sie nicht reagiert.
Martha klopft lauter. In diesem Moment geht die Zimmertür auf, und Miller kommt herein. Im Bademantel!
Martha zuckt zurück und presst sich flach an die Hauswand. Vergeblich versucht sie, die Bilder irgendwie zusammenzubringen, eine logische Erklärung zu finden. Poppy bei Miller. Miller im Bademantel. Vielleicht hat sie sich mal wieder übergeben müssen, hat ihm auf die Hose gekotzt, und er musste sich umziehen.
Martha lugt wieder durchs Fenster, doch was sie sieht, lässt keinen Zweifel mehr zu. Jetzt ist sie es, die sich am liebsten übergeben möchte.
Miller sitzt neben Poppy auf dem Boden und streicht ihr langsam und zärtlich über den Rücken. Seine Hand wandert höher, spielt mit den Zöpfchen. Poppy schüttelt sich, als wolle sie ein lästiges Insekt loswerden. Er umschlingt sie mit seinen Armen, bedeckt ihr Köpfchen mit Küssen …
Martha blickt sich hektisch um. Auf der Terrasse stehen an die Wand gelehnt Klappstühle. Die sind viel zu leicht. Martha greift nach einem Blumentopf, in dem verdorrte Geranien stecken, doch der ist aus Plastik. Vor den Stufen, die in den Garten führen, liegt ein Laubrechen. Martha lässt ihren Rucksack fallen, umklammert den Stiel der Harke und schlägt mit aller Kraft die Eisenzacken in die Terrassentür. Es klirrt, die Scheibe hat einen Sprung. Martha schlägt noch einmal zu. Und diesmal fällt die Scheibe in großen Stücken aus dem Türrahmen. Martha steigt durch das Loch, spürt einen kurzen Stich im rechten Arm, achtet aber nicht darauf.
«Poppy!», ruft sie, und ihre Stimme überschlägt sich fast. «Poppy, komm zu mir!»
Poppy dreht sich zu ihr um. Und Martha bleibt fast das Herz stehen. Das Gesicht des Kindes ist eine grausige Fratze. Ihr Mund ist mit Lippenstift beschmiert, auf den Wangen glühen Rougeflecken, ihre Augenlider schillern in Grün- und Blautönen. Ihr Daumen ist blutig … nein, es ist kein Blut. Sie muss ihn sich in den Mund gesteckt haben.
Miller ist aufgesprungen, mit wenigen Schritten ist er an der Terrassentür und packt Martha am Arm. Sie schreit auf. Er zieht seine Hand zurück, von der es rot herabtropft. Jetzt erst sieht sie den langen Riss im Ärmel ihrer Jacke, Blut quillt heraus. Mit Verzögerung spürt sie den scharfen Schmerz. Es fühlt sich an, als stecke die Glasscherbe noch in ihrem Fleisch.
Miller zieht ein Kleenex aus der Tasche seines blau-weiß gestreiften Bademantels.
«Drück das auf die Wunde», sagt er und klingt dabei genauso, als würde er am Ende der Stunde die Hausaufgaben verkünden.
Martha nimmt das Tuch und presst es auf das blutende Loch.
«Poppy, kommst du? Wir müssen nach Hause, dein Papa wartet», sagt sie und versucht so normal wie möglich zu klingen.
«Papa arbeitet», sagt Poppy und wendet sich wieder dem Geschehen auf dem Bildschirm zu.
Martha will zu ihr gehen, doch Miller hält sie fest. «Die Kleine bleibt bei mir. Ich bin noch längst nicht mit ihr fertig.»
Martha schluckt. «Was meinen Sie damit?»
Miller lacht, und das Lachen klingt wie das eines kleinen Jungen, der sich gerade einen Spaß erlaubt hat.
«Weißt du das nicht? Weißt du das wirklich nicht? Du bist doch anscheinend so schlau. Hast ja nicht lange auf dein Schweigegeld gewartet, sondern gleich die richtigen Schlüsse gezogen. Hätte ich dir gar nicht zugetraut, Martha. Hatte dich immer für etwas beschränkt gehalten.»
Seine Bemerkung tut Martha weh, immer noch!
«Bitte, lassen Sie sie gehen, sie ist doch noch so klein.»
Millers Lachen wird zu einem grausigen Meckern. «Aber das ist es ja. Das ist ja das Problem, verstehst du? Ich kann nur mit den Kleinen, mit den ganz Kleinen. Den Süßen, den Zarten, den Unschuldigen. Schau
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