Am Ende des Tages
»Der ist vorbei. Könnt eins ganz trübselig werden.« Wieder gähnte er. »Aber man findet sich mit der Zeit drein. Man muss sich halt beschäftigen, gell? Ich hab einen Garten hinterm Haus und ein bisserl Viech, da wirds mir nicht langweilig.«
»Aha«, sagte Kajetan abwesend.
»Und wenn ich Zeit hab, schreib ich Gschichterl. Was alles so passiert auf so einem kleinen Bahnhof, verstehens? Das ist oft schon interessant.«
Kajetan gähnte. »Glaub ich«, sagte er.
»Bin ja jetzt auch schon seit dem Krieg da. Im Winter vorletztes Jahr hab ich mein Zehnjähriges gehabt.«
Kajetan zog die Füße ein.
»So lang schon?«
Der Beamte nickte mit müdem Stolz. »Wenn ichs sag.«
»Sie müssen doch bestimmt auch ein Journal führen, oder?«
»Freilich. Wann der Zug gekommen und abgefahren ist, obs besondere Vorkommnisse gegeben hat, alles muss eingetragen werden. Ist Pflicht.«
»Interessant«, sagte Kajetan. Sein Herz klopfte schneller. »Wenn ich jetzt beispielsweis wissen möcht, ob der Fünfer-Zug am – sagen wir mal irgendeinem Tag …?«
Der Beamte nickte aufmunternd. »Sagens mir irgendeinen.«
»– sagen wir, am zweiten Dezember achtzehn …?«
Der Beamte bekräftigte stolz: »Dann steht das alles drin. Ob er pünktlich gekommen und abgefahren ist, wie viele Billetts ich verkauft hab und alles. Glauben Sie’s mir nicht? Soll ich Ihnen das Achtzehner Journal einmal holen?«
Kajetan zuckte die Achseln. »Warum nicht? Dann vergeht die Warterei schneller.«
»Genau.« Der Beamte lachte verhalten. »Ich selber muss auch hie und da wieder reinschauen. Damit ich seh, was ich überhaupt tu.« Er verschwand in seinem Büro und kam kurz darauf wieder mit dem gebundenen Journal zurück.
»Habs auch gleich gefunden, Herr«, sagte er. Er zeigte auf eine Eintragung. »Zweiter Dezember achtzehn. Wetter: bewölkt, Frühfrost, mittags sechs Grad Celsius …«
»Der Fünfe-Zug tät mich interessieren.«
»Momenterl – da! Fünfer-Zug: ausgefallen. Klammer auf, Ursache: Kohlerationierung, Klammer zu. Gleicher Tag: Dreiviertelacht-Zug nach Mühldorf. Ankunft und Abfahrt gemäß Fahrplan. Ein Passagier. Dritte Klasse, Klammer auf, KB, Klammer zu.«
»KB?«, fragte Kajetan.
»Der Passagier hat nach Kriegsbeschädigten-Tarif bezahlt«, erklärte der Stationsleiter.
Kajetan starrte auf das Register. Der Beamte lächelte.
»Wollens noch einen Tag wissen?«
»Nicht nötig«, sagte Kajetan.
23.
Beinahe hätte Johann Fürst vergessen, dass er an diesem Abend noch etwas Dringendes zu erledigen hatte. Er hatte dem »Tabarin« nur einen kurzen Besuch abstatten wollen. Doch dann hatte er hinter seinem Rücken ein perlendes Lachen gehört und sich neugierig umgedreht. Er war nicht allein damit. Alle Männer in der Bar hatten nach der hübschen jungen Frau mit dem pechschwarz gefärbten Bubikopf gesehen.
Doch nur von ihm ließ sie sich schließlich einladen. Er fühlte sich großartig, scherzte mit ihr, machte ihr anzügliche Komplimente, die sie mit gespielter Empörung kichernd zurückwies.
Als der Kellner die zweite Champagner-Flasche auf den Tisch stellte, dachte er verstohlen an seine Barschaft. Doch ein Blick in die Augen seiner Eroberung machte diesen Gedanken zunichte. Er legte den Arm um sie und genoss den Neid der anderen Männer. Sie schmiegte sich an ihn. Bald hatte er keinen Zweifel mehr, wie dieser Abend enden würde. Und vielleicht nicht nur dieser. War es ihm zuvor noch darum gegangen, seine Konkurrenten auszustechen, so begann ihm dieses Mädchen jetzt wirklich zu gefallen.
Er war immer mehr in Fahrt gekommen, als er spürte, dass sie ein wenig von ihm abrückte. Als bereite es ihr mit einem Mal Mühe, sich aus plötzlicher Gedankenverlorenheit zu befreien, reagierte sie verzögert auf seine Fragen, und ihr Blick unter schweren Lidern schien ihm jetzt dunkel und unergründlich. Irritiert zog er sie an sich, tätschelte ihre Schultern, raunte ihr Zärtlichkeiten ins Ohr, wurde drängender.
Bis sie schließlich den Zeitpunkt gekommen sah, ihn mit ihren Geschäftbedingungen vertraut zu machen. Stockend berichtete sie von einer schweren Erkrankung der geliebten Mutter, der Arbeitslosigkeit ihres hinfälligen Vaters und ihrer Sorge, die gesalzenen Preise für deren Medikamente nicht mehr aufbringen zu können. Geschweige denn, die Mäuler ihrer noch minderjährigen Geschwister stopfen zu können.
Ihm wurde augenblicklich klar, dass sie ihn als beschränkten Hinterwäldler eingeschätzt hatte, der sich das
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