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Am Ende des Tages

Am Ende des Tages

Titel: Am Ende des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Hültner
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aufschlug, fand er sich neben seinem Bett liegend. Er streckte die Arme aus, versuchte sich aufzurichten. Seine Glieder gehorchten ihm nicht. Er rollte stöhnend zur Seite, kroch auf allen vieren durch das Zimmer und zog sich an der Waschkommode hoch.
    Die Hände auf dem kühlen Stein der Tischplatte aufgestützt, starrte er in den Spiegel. Ein wächsernes Gesicht glotzte zurück, die Augen rot umrandet und wässerig. Aus den Mundwinkeln troffen Speichelfäden, durch die halb geöffneten Lippen schimmerte stumpf das Gebiss. Aus einer Nasenöffnung löste sich ein schleimiges Rinnsal und sickerte über die Oberlippe in den Mund.
    Wer ist dieser Mensch?, dachte er noch, bevor ihn der Krampf wie ein Peitschenschlag traf und zu Boden warf. Er schlug um sich, rang röhrend nach Luft, vor seinen Augen blitzten Funkengarben, in seinen Adern brach ein Orkan los, als strömten Lava, dann wieder Eisblöcke durch sie hindurch, als fräßen Termiten sein Innerstes auf, seine Narben glühten, in seinen Ohren schwoll ein grelles Kreischen an und sägte sich durch sein Gehirn, durch das Fetzen der Erinnerung an den vergangenen Abend torkelten: Wie er sich in die Menge im übervollen »Steyrer« am Bahnhof gestürzt hatte, einen Maßkrug nach dem anderen in sich geschüttet, geschunkelt, gebrüllt und gejohlt hatte, getrieben von einer strotzenden, verrückten Lust, mit der aber auch ein namenloser Hunger angewachsen war, der sich nie mehr stillen lassen würde. Und wie er danach im Pulk mit anderen Betrunkenen zu Madame Henriette wankte, die in einem heruntergekommenen Haus in einer Seitengasse der Sendlinger Straße einen illegalen, als Schneiderei getarnten Salon betrieb. Üppige junge Frauen in tief ausgeschnittenen Kleidern hatten sie empfangen und in ein dämmeriges und verrauchtes, mit abgewetzten Fauteuils möbliertes Hinterzimmer geführt, in dem ein hagerer, schäbig gekleideter Pianist versuchte, sich über Gegröle und grellem Gelächter hindurch Gehör zu verschaffen. Madame Henriette hatte zwei junge Frauen mit energischem Wink auf ein niedriges Podium gescheucht und einen »Schönheitstanz« angekündigt, der, nachdem schon bald die dünnen Tücher gefallen waren, in eine säuisch besoffene Orgie übergegangen war.
    Wie er nachhause gekommen war, wusste Fürst nicht mehr. Er kroch wimmernd zum Nachttisch, fingerte nach der Pravaz, zog sie mit zitternden Fingern auf, senkte die Nadel in die Vene. Noch immer von Spasmen geschüttelt, drückte er den Kolben hinab.
    Ein Schauder durchlief ihn. Sofort flutete ihn selige Ruhe. Er kippte den Kopf zurück, atmete tief ein. Dann zog er die Nadel heraus. Er trocknete sein tränenüberströmtes Gesicht, schnäuzte sich, legte sich auf das Bett und streckte die Arme von sich, als erwarte er eine Umarmung.
    Er lag eine Weile in völligem Frieden da, als es verhalten klopfte. Er sah zur Tür, zögerte kurz. Er stand auf, strich mit der Hand durch sein zerwühltes Haar und drückte die Klinke herunter.
    Moidls Wangen glühten. »Ent… entschuldige, Johann«, stammelte sie.
    »Du …«, sagte er weich. Er ließ sie eintreten und drückte die Tür hinter ihr zu.
    »Schön, dass du mich besuchst.« Er schmunzelte onkelhaft: »Die Frau Chefin ist wohl grad außer Haus, hab ich Recht?«
    Die ängstliche Anspannung wich aus ihrem Gesicht. Sie nickte erleichtert.
    »Freuts dich?«, sagte sie leise.
    »Dass du das fragst«, sagte er gespielt vorwurfsvoll, sandte seinen Worten jedoch ein Lächeln nach.
    Sie stürzte auf ihn zu und schlang ihre Arme um ihn. Ein merkwürdiges Gefühl schnürte ihm plötzlich die Kehle zu. Wie lieb das Mädel war. Wie warm und weich ihr Körper. Er tätschelte ihren Rücken.
    »Ich muss mit dir reden«, hörte er sie flüstern.
    Er sah fragend auf sie herab.
    »Nicht jetzt«, sagte sie mit bebender Stimme. »Die Erna wartet unten auf mich.«
    Er griff unter ihr Kinn und hob es an. »Der alte Drachen scheucht dich ganz schön umeinand«, sagte er schmunzelnd. »Dann kehren wir halt wieder mal irgendwo ein, hm?« Er lächelte aufmunternd. »Aber gut. Ich lass es dich wissen, wanns mir ausgeht. Ists recht?«
    Sie nickte stumm, löste sich von ihm und huschte hinaus. In der Tür hielt sie inne und drehte sich zu ihm. Sie kicherte einfältig. »Gott, bin ich ungeschickt.« Sie griff in ihre Schürzentasche. »Da ist ein Brief für dich abgegeben worden.« Sie reichte ihm den Umschlag. »Ein Bub hat ihn in der Früh der Erna gebracht. Bevor sie ihn was fragen hat

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