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Am Ende des Tages

Am Ende des Tages

Titel: Am Ende des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Hültner
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können, ist er schon wieder fort gewesen.«
    Er hob fragend die Brauen und nahm ihn entgegen.
    »Was für ein Bub?«
    »Moidl!«, hallte die ungeduldige Stimme der Köchin durch das Treppenhaus. Das Zimmermädchen drehte sich um und lief die Treppe hinunter.
    Fürst schloss die Tür, riss den Umschlag auf und las.
    Jemand sei ihm auf der Spur. Er müsse vorsichtig sein.
    Seine Stirn runzelte sich. Durch sein wattiges Wohlbefinden sickerte Unruhe.

34.
    Kajetan erwachte mit einem Ruck. Zehn Uhr. Schon wieder verschlafen. Er fluchte, zog sich hektisch an, warf sich ein wenig Wasser ins Gesicht, kämmte sich und schlüpfte in seinen Mantel.
    Er hatte die Türklinke bereits in der Hand, als sein Blick auf das Nachttischschränkchen fiel. Die Tür stand offen. Er kniete sich nieder, nahm die Mappe heraus und öffnete sie. Er hielt als Erstes das Foto, das seinen Vater mit seinen Arbeitern vor einem Trockenregal der Ziegelei zeigte, in der Hand. Hatte er aber nicht zuletzt das Hochzeitsfoto seiner Eltern angeschaut?
    Seltsam, dachte er. Dann eilte er hinaus.
    Eine halbe Stunde später stand er vor dem Schreibtisch des Professors und stotterte eine Entschuldigung. Der alte Herr winkte ab.
    »Machen Sie mir eine Skizze«, befahl er.
    Kajetan war vorbereitet. Er griff in seine Manteltasche, holte ein Blatt Papier heraus, entfaltete es und schob es über den Tisch. Der Professor rückte seinen Kneifer zurecht und beugte sich darüber.
    »Die Zeitangaben sind korrekt? Zweiter Dezember 1918? Zwischen sechzehn Uhr fünfundvierzig und siebzehn Uhr, ja?«
    Kajetan nickte.
    »Und das Geschehen trug sich im Amtsbezirk Dingolfing zu, sagten Sie?«
    »Richtig.«
    »Warten Sie einen Augenblick.« Mit einer behenden Bewegung erhob sich der Professor, ging zu seinem Bücherregal, fuhr mit dem Zeigefinger eine Reihe von Buchrücken entlang und zog einen der Bände heraus. Er schlug ihn auf und las murmelnd.
    Kajetan unterdrückte ein Gähnen.
    »Hier!« Der Professor wandte sich um. »An diesem Tag ging die Sonne in dieser Gegend gegen 16:25 Uhr unter. Da kann ich Ihnen schon einmal vorab versichern, dass auch bei klarstem Himmel die Sichtweite bereits massiv reduziert ist. Hinzu kommt, dass sich dies minütlich ändert. Um 16:45 Uhr haben Sie nur mehr ein Viertel der normalen Sehschärfe, um 17 Uhr nur noch ein Zehntel.«
    »Das bedeutet, dass …?«
    Der Professor ließ sich wieder auf seinem Sessel nieder und strich mit seiner Hand über seinen Bebelbart. »Es bedeutet, dass ein Verdächtiger, um ihn eindeutig identifizieren zu können, in einer Distanz von höchstens dreißig Metern an diesem Zeugen vorbeigehen müsste. Ab einer Distanz von höchstens sechzig Metern wäre auch keine Gestalt mehr wahrnehmbar, geschweige denn die Farbe der Kleidung. Ein grauer, dunkelblauer, dunkelgrüner Mantel kann schwarz erscheinen, noch dazu vor dunklem Hintergrund. Sagten Sie nicht auch, dass sich das Geschehen am Waldrand zutrug?«
    Kajetan nickte.
    »Und wieviel betrug die tatsächliche Entfernung zwischen Zeugen und Verdächtigtem?«
    »Ungefähr dreihundertfünfzig Meter.«
    Der Professor nahm den Kneifer ab.
    »Was soll ich noch sagen?«, meinte er kopfschüttelnd. »Und aufgrund dieser Beobachtungen wurde jemand zum Tode verurteilt? Verzeihen Sie, aber das kann ich unmöglich glauben.« Er lehnte sich zurück. »Richten Sie dem verehrten Herrn Doktor Herzberg bitte aus, dass ich ihm vor Gericht dafür jederzeit und selbstverständlich zur Verfügung stehe. Wäre der Anlass nicht so deprimierend, würde ich sogar sagen: mit dem größten Vergnügen!«
    Kajetan bedankte sich, stand auf und verabschiedete sich. In der Tür drehte er sich noch einmal um.
    »Und … und das kann man wirklich nach so langer Zeit noch so genau sagen?«
    »Junger Mann.« Der Professor schmunzelte nachsichtig. »Wenn Uhrzeit und Entfernung feststehen, könnte ich Ihnen sogar noch die Sichtverhältnisse bei der Seeschlacht von Salamis berechnen. Und diese fand, wie allseits bekannt, bereits vor zweieinhalbtausend Jahren statt.«

35.
    Ludmilla Köller war gerade beim Bügeln, als sie hörte, wie sich hinter ihr die Türe behutsam öffnete.
    »Milla«, sagte Egidius Kummerer.
    Sie wandte ihm ihr Profil zu. »Ja?«, sagte sie freundlich, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
    Er trat einige Schritte näher und hüstelte in seine Hand.
    »Ich … ich möcht dich was fragen, Milla.«
    Sie zuckte die Achseln.
    »Dann tus.«
    »Du hast es doch gut bei mir, oder?«
    »Sag ich

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