Am Ende war die Tat
sie im gleißenden Licht einer Gelenklampe. Reihe um Reihe kleiner Nagellackfläschchen standen einsatzbereit daneben.
Das einzige Problem mit Caroles Verschönerungsplänen war, dass sie keine nennenswerten Fingernägel besaß. Sie hatte sie so weit abgekaut, dass nur mehr Splitter davon übrig waren. Auf diese unattraktiven Stummel wollte sie nun künstliche Nägel setzen lassen. Diese lagen ordentlich sortiert in einer Plastikschachtel, auf der die Kosmetikerin mit ihren eigenen Fingernägeln trommelte, während sie Joels und Tobys Mutter vergeblich zu erklären versuchte, dass ihr Plan zur Nagelverlängerung nicht funktionieren würde. Ihre Ehrlichkeit ehrte sie, aber es war zwecklos. Carole wollte die falschen Nägel, die erst lackiert und dann hübsch verziert werden sollten. Die winzigen Goldherzchen, die zum nahenden Valentinstag passten, lagen schon bereit, auf eine Pappe geklebt und an die Nagellackfläschchen gelehnt.
Serena seufzte schließlich tief und sagte: »Wenn Sie unbedingt wollen ...« Ihr Kopfschütteln bedeutete jedoch vielmehr: Ich hab Sie gewarnt. Und sie prophezeite: »Das wird keine fünf Minuten halten.«
»Die fünf glücklichsten Minuten meines Lebens.« Carole lehnte sich auf dem Stuhl zurück und sah zu Joel. Sie runzelte die Stirn, und ihr Ausdruck verdüsterte sich. Dann strahlte sie wieder. »Wie geht es deiner Tante Ken?«, fragte sie.
Joels Herz tat einen hoffnungsvollen Hüpfer. Während der letzten Jahre hatte seine Mutter kaum je gewusst, dass es überhaupt eine Tante Ken gab. »Gut«, antwortete er. »Dix is' wieder da. Das is' ihr Freund. Der sorgt dafür, dass es ihr gut geht.«
»Tante Ken und die Kerle.« Carole schüttelte den Kopf. »Sie hatte immer schon Bock auf geile Böcke, stimmt's nicht?«
Serena kicherte, versetzte dann aber Caroles Hand einen sanften Klaps. »Keine unanständigen Reden, Miss Caro, oder ich muss es melden.«
»Is' aber so«, beharrte Carole. »Als die Großmutter der Kinder ihrem Freund nach Jamaika gefolgt ist und die Kids zu ihrer Tante Kendra kamen, hab ich gleich gesagt: Jetzt kriegen sie mal richtigen Aufklärungsunterricht.< Das hab ich doch gesagt, oder, Joel?«
Joel konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie hatte niemals so etwas gesagt, aber die Tatsache, dass sie es vorgab; die Tatsache, dass sie wusste, wohin ihre Großmutter verschwunden war; die Tatsache, dass sie wusste, wo die Kinder lebten, bei wem und warum ... Bis heute hatte Carole Campbell noch nie ein Wort über Kendra, Glory oder Jamaika verloren oder irgendetwas anderes geäußert, das darauf hindeutete, dass sie wusste, in welchem Zeitalter sie lebte. Darum war es ganz gleich, ob das, was sie sagte, schlüpfrig, falsch oder eingebildet war. Es war so neu, so unerwartet und so willkommen ... Joel fühlte sich wie jemand, der sich unverhofft vor der Himmelspforte wiederfand.
»Und Ness?«, fragte Carole. »Joel, warum besucht sie mich nicht? Ich weiß, wie traurig sie über den Tod eures Vaters ist,wie er gestorben ist und all das. Ich verstehe, was sie fühlt. Aber wenn sie nur herkäme und mit mir reden würde, ich glaube, dann würde es ihr schon viel besser gehen. Sie fehlt mir. Sagst du ihr, dass sie mir fehlt?«
Joel wagte kaum zu antworten, so unglaublich schien ihm, was er gerade hörte. »Ich sag's ihr, Mum«, versprach er. »Sie ... sie hat grad keine ganz leichte Zeit, aber ich sag's ihr.« Mehr erzählte er ihr lieber nicht. Er wollte nicht, dass seine Mutter von dem Überfall erfuhr, davon, wie Ness darauf reagiert hatte. Carole auch nur ansatzweise schlechte Neuigkeiten mitzuteilen, erschien ihm viel zu riskant. Wer konnte wissen, ob es sie nicht zurück ins Niemandsland katapultieren würde, wo sie sich so lange aufgehalten hatte?
Darum zuckte Joel zusammen, als Toby sich unerwartet zu Wort meldete: »Ness hatte 'ne böse Schlägerei, Mum. Paar Typen ha'm sie sich geschnappt und ganz schön zugerichtet. Tante Ken musste mit ihr ins Krankenhaus.«
Serena warf ihnen über die Schulter einen Blick zu, eine Braue hochgezogen, die Klebstofftube in der Hand. »Geht's ihr wieder gut?«, fragte sie, trug den Kleber auf einen künstlichen Nagel auf und drückte diesen dann auf einen von Caroles abgenagten echten Nägeln.
Carole schwieg. Joel wartete mit angehaltenem Atem auf ihre Reaktion. Sie neigte den Kopf zur Seite und betrachtete Joel versonnen. Als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme genau wie vorher. »Du wirst deinem Vater jeden Tag
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