Am Ende war die Tat
den Jugendlichen des Viertels Freundinnen hatte. Six und Natasha, erinnerte sie sich. Aber das war auch schon alles, was sie unumstößlich wusste. In ihrer Vermutung standen darüber hinaus Alkohol, Drogen und Sex ganz oben auf der Liste. Sie nahm an, dass Diebstahl, Prostitution, HIV und Bandenkriminalität bald auch eine Rolle spielen konnten.
Trotz aller Bemühungen gelang es Kendra wochenlang nicht, die geplante Unterhaltung mit Ness zu führen. Sie konnte ihre Nichte einfach nicht finden, und erst als sie sich schon damit abgefunden hatte, dass sie Ness nicht aufspüren würde, ehe das Mädchen aufgespürt werden wollte, sah sie sie zufällig beim Betreten von Whiteley's am Queensway. Sie war in Gesellschaft zweier Mädchen, einem pummeligen und einem mageren, beide gekleidet in der üblichen Uniformiertheit hautenger Jeans, unter denen sich alles von den Gesäßbacken bis hin zum Schambein deutlich abzeichnete, auf Stilettoabsätzen, die durchsichtigen Blusen über winzigen, bunten T-Shirts geknotet. Ness war ganz ähnlich ausstaffiert. Kendra entdeckte einen ihrer eigenen Schals im Haar ihrer Nichte.
Sie folgte ihnen in das Geschäft und beobachtete, wie sie in der Bijouterie den Modeschmuck befingerten. Sie rief nach Ness, und das Mädchen drehte sich um und führte die Hand zu dem Schal, als glaube sie, Kendra wollte ihn ihr wegnehmen.
»Ich muss mit dir reden«, sagte Kendra. »Ich versuche schon seit Wochen, dich zu finden.«
»Ich hab mich nich' vor dir versteckt.«
Das pummelige Mädchen lachte hämisch, als sei Kendra irgendwie zurechtgestutzt worden, wenn auch nicht durch die Worte, dann doch durch den abweisenden Tonfall.
Kendra betrachtete das Pummelchen. »Wer bist du denn?«, fragte sie.
Das Mädchen antwortete nicht. Stattdessen setzte sie eine mürrische Miene auf, die Kendra wohl abschrecken sollte, was jedoch nicht funktionierte. »Ich bin Tash«, sagte die Magere, doch die andere brachte sie mit einem vernichtenden Blick ob dieser Leutseligkeit augenblicklich zum Schweigen.
»Also, Tash«, erwiderte Kendra. »Ich müsste mal mit Vanessa alleine sprechen. Ich möchte, dass du und deine Freundin - bist du vielleicht Six? - uns Gelegenheit dazu gebt.«
Natasha hatte außer im Fernsehen niemals eine schwarze Frau ein derart vornehmes Englisch sprechen hören. Sie starrte Kendra verblüfft an. Six verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, kreuzte die Arme vor der Brust und musterte Kendra von Kopf bis Fuß. Ihr Blick war bedrohlich, fast als merke sie sich Kendra als potenzielles Opfer für einen Straßenraub oder Schlimmeres vor.
»Also?«, hakte Kendra nach, da keines der Mädchen Anstalten machte, sich zu entfernen.
»Die bleiben, wo sie sind«, erklärte Ness. »Und ich will nich' mit dir reden. Ich hab dir nix zu sagen.«
»Aber ich habe dir etwas zu sagen«, entgegnete Kendra. »Ich war im Unrecht, und darüber will ich mit dir reden.«
Ness' Augen verengten sich. Seit dem Vorfall vor Kendras Haus war einige Zeit vergangen, darum war sie nicht sicher, was es mit diesem »Unrecht« auf sich hatte. Sie hatte noch nie erlebt, dass ein Erwachsener - abgesehen von ihrem Vater - ihr gegenüber einen Fehler eingestanden hätte; sie war verwirrt, zögerte und fand auf die Schnelle keine Antwort.
Kendra ergriff die Gelegenheit beim Schopf. »Lass uns einen Kaffee trinken gehen. Du kannst dich ja anschließend wieder mit deinen Freundinnen treffen, wenn du willst.« Sie machte zwei Schritte in Richtung Ausgang.
Ness zauderte immer noch, dann sagte sie zu den anderen beiden Mädchen: »Ich hör mir ma' an, was die Alte will. Wir treffen uns vorm Kino.«
Die anderen beiden zuckten die Achseln, und Kendra führte Ness zu einem Café in der Nähe von Whiteley's . Sie wollte nicht im Einkaufszentrum bleiben, wo ein enormer Geräuschpegel herrschte und die Scharen herumstreifender Jugendlicher zu viel Ablenkung verhießen. Im Café war es zwar brechend voll, doch die Gäste waren mehrheitlich Erwachsene, die zwischen ihren Einkäufen ein Päuschen einlegten, keine Jugendlichen, die auf Action aus waren. Kendra bestellte Kaffee an der Theke, und während sie darauf wartete, überlegte sie, was sie sagen wollte.
Sie machte es kurz und kam sofort zur Sache: »Ich hatte kein Recht, dich zu schlagen, Nessa«, sagte sie zu ihrer Nichte. »Ich war wütend, dass du nicht bei Joel und Toby zu Hause geblieben bist, wie du es versprochen hattest. Und dann hab ich auch noch gedacht, da im
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