Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
griffen nach dem Briefmesser, um ihm zu drohen, nicht um ihn umzubringen. So oder so haben Sie Panik bekommen und ihn getötet.« Michael dachte laut und fügte dabei die verschiedenen Versatzstücke zusammen, die Rhia ihm erzählt hatte. »Möglicherweise war es ein Unfall, denn wenn jemand erfuhr, dass Sie in der Kajüte eines ehrbaren Passagiers herumgeschnüffelt haben, hätte das Ihre Hoffnungen auf Aufstieg und Wohlstand sofort zunichtegemacht. Sie haben also seine Kabine durchsucht, das Porträt gefunden und einen der Männer darauf wiedererkannt.« Michael behielt den Botaniker die gesamte Zeit im Blick, dessen Augen immer größer und ängstlicher wurden. Das aufgeschlagene Skizzenbuch zeigte schlecht ausgeführte Zeichnungen der einheimischen Flora.
»Natürlich habe ich einen Gönner«, krächzte Reeve schließlich. »Das ist in meinem Beruf notwendig und normal. Seine Identität ist jedoch eine Privatangelegenheit, und das, was Sie mir da vorwerfen, ist absolutes … Gewäsch.« Er klang jedoch weder überzeugend noch überzeugt.
Calvin nickte langsam. » Gewäsch? Dann würden Sie also lieber in einer Zelle einsitzen, als uns seinen Namen zu nennen? Das muss sich um ein ganz ordentliches Bestechungsgeld handeln, das Sie nicht verlieren wollen. Sie werden irgendwann herausfinden, dass die Freiheit mehr wert ist.«
»Ich habe sie über die Jahre hinweg als unbezahlbar schätzen gelernt«, stimmte Michael ihm zu.
Reeve sah aus, als würde er sich gleich übergeben. »Sie haben nicht den geringsten Beweis, und ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.«
»Ich brauche keine Beweise, um in Sydney jemanden zu verhaften, Mr Reeve. Und ich garantiere Ihnen, dass Sie mehr zu sagen haben werden, wenn Sie erst Ihr neues Quartier gesehen haben. Der Gedanke an eine milde Strafe könnte in ein paar Tagen wesentlich verlockender erscheinen. Das bieten wir nämlich hier als Gegenleistung für ein Geständnis an, für Namen . Wir stellen hier unsere eigenen Regeln auf. Denken Sie darüber nach.«
Cal ging zur Tür und rief nach den beiden jungen Wachmännern, die im Flur warteten. Michael beobachtete Reeve. Es war deutlich erkennbar, dass er in der Tat darüber nachdachte, denn er hatte nach seinem Bleistift gegriffen und kritzelte so heftig auf seinem Zeichenpapier herum, dass er ein Loch hineinriss. Als Calvins Jungs das Zimmer betraten – und sie waren Jungs, die gern etwas zu tun haben wollten, um sich die Zeit zu vertreiben –, stand Reeve auf und warf den Stift auf den Tisch. Er sah erbärmlich elend und voller Selbstmitleid aus.
»Wir überlassen Sie dann Ihrer Eskorte«, erklärte Calvin. »Macht euch nicht die Mühe, ihm die Hände zu fesseln, Jungs. Ich hab gesehen, wie ihr draußen eure Pistolen geladen habt.«
Als sie an der Kaserne vorbei zurück zur Macquarie Street gingen, schüttelte Calvin den Kopf. »Er ist der Handlanger von irgendjemandem und erwartet, dass man ihn retten wird, da bin ich mir ganz sicher. Ich werde ihn eine Weile wegen Mordverdachts festhalten, bis ich ihm ein Geständnis entlocken kann. Vielleicht dauert es ja gar nicht so lange, bis er seine Gentleman-Ansprüche vermisst.«
Michael nickte. Er brauchte etwas zu trinken. »Du und deine Leute, ihr habt zurzeit viel zu tun, stimmt’s? Hat immer noch jemand ein Auge auf Mick?«
»Aber klar doch. Ich habe aber nicht vor, mich da einzumischen. Heute sollte eigentlich mein freier Abend sein. In einem Zimmer oben im Hare and Hound wartet ein halbes Dutzend bewaffneter Männer, und mein Sergeant hat noch mehr Leute unten am Hafen. Die hocken da schon die ganze Woche und werden langsam unruhig. Das muss demnächst losgehen. Außer sie haben es geschafft, uns das Zeug unter der Nase vorbeizuschmuggeln. Es ist uns sogar gelungen, ein paar der Soldaten des Gouverneurs auszuleihen.«
»Da könnte es doch nicht schaden, ein Bier im Hare and Hound zu trinken, oder?«, schlug Michael vor.
Calvin seufzte schwer, aber Michael konnte sehen, dass er nichts dagegen einzuwenden hatte.
Das Hare and Hound in den Rocks lag nur eine Straße von Micks Haus entfernt. Michael und Calvin nahmen den Seiteneingang der Taverne und gingen direkt nach oben in eins der vorderen Zimmer. Vier Männer saßen am Tisch, aßen und rauchten, und zwei standen an den Fenstern, von wo aus man einen passablen Blick auf Micks Hauseingang hatte. Calvin wechselte ein paar leise Sätze mit den beiden, die Wache schoben, dann ließen Michael und er sie allein.
Die Taverne
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