Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
lechzte. Die Karte, die an Antonia und Rhia gerichtet war, lud zu Isabellas bevorstehendem Geburtstagstee ein, doch Antonia ging nicht davon aus, dass sie sich überwinden konnte, daran teilzunehmen. Sie würde sich bloß wie eine alte Taube in einem Käfig voller bunter Vögel fühlen, die sich alle herausputzten und aufeinander herumhackten.
Juliettes Laune schien sich zu bessern, sobald sie Millbank verließen, und Antonia glaubte sogar ein geheimnisvolles Lächeln zu erspähen, ehe sie beide gezwungen waren, sich Taschentücher vor Nase und Mund zu pressen. Der Gestank war einfach widerlich. »Wenn die Fäkaliensammler nicht einen Shilling pro Senkgrube verlangen würden«, stellte Antonia trocken fest, »würden die Abwasserkanäle vielleicht nicht so oft überlaufen.« Abwasser war wie Gefühle: Beide konnten nur bis zu einem bestimmten Punkt angestaut werden, ehe sie sich von selbst Bahn brachen.
30
D AMAST
Greystones
County Wicklow, Irland
16. Februar 1841
Meine liebe Rhia,
Du musst inzwischen Deine Stelle in Mr Montgomerys Laden angetreten haben. Ich stelle mir Dich von lauter Seide umgeben vor.
Meine verspätete Antwort liegt, wie Du Dir sicher denken kannst, nicht an mangelndem Willen, sondern an mangelnder Zeit. Annie Kelly und ich spinnen, solange das Tageslicht es zulässt, und abends braucht Dein Vater meine Gesellschaft. Er ist ziemlich unverändert. Der Arzt sagt, die Knochen sind verheilt, und es gibt keinen Grund, weshalb Dein Vater nicht mit Hilfe eines Stocks laufen sollte, doch sein Leiden ist nicht körperlicher Natur. Er verzeiht sich weder, dass er den Ruin des Geschäfts zugelassen hat, noch dass er Dich hat gehen lassen. Er scheint inzwischen sogar zu glauben, dass er etwas hätte tun können, um Ryans Tod zu verhindern. Wenn er endlich schläft, bin ich zu erschöpft, um noch zu schreiben und mache mir jetzt immer Gedanken um die Kosten, wenn die Gaslampen brennen. Ich könnte auch beim Licht einer Talgkerze schreiben, aber es ist zu duster. Versteh mich nicht falsch, ich empfinde dies nicht als Bürde, denn es erinnert mich daran, den Wert der Dinge zu schätzen, wie Mamo es immer gesagt hat. Manchmal glaube ich, ihre Stimme zu hören, die mich darauf hinweist, dass ich Glück hatte, einen reichen Mann zu heiraten, und natürlich hat sie recht.
Was Thomas Kelly betrifft, ja, es geht ihm gut, und er webt so geschwind wie eh und je. Er kann an einem Tag fast dreieinhalb Meter produzieren, wenn er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeitet. Thomas und ich haben mit Kammgarn herumexperimentiert, und ein italienischer Händler hat mir eine Merinowolle-Probe gegeben. Es handelt sich um ein feines Garn und ist fast so weich wie die Wolle von tibetischen Ziegen. Ich habe schon einige Meter an einen Dubliner Tuchhändler verkauft, also kommen wir über die Runden.
Wir freuen uns alle so, dass Michael Kellys Strafe im Sommer abgesessen ist, und dass es ihm irgendwie gelungen ist, das Geld für seine Überfahrt nach Dublin zusammenzubringen. Es wird wunderbar sein, ihn wieder zu Hause zu haben, und natürlich wird es den Kellys auch besser gehen, wenn wieder beide Webstühle im Einsatz sind.
Ich will nichts davon hören, dass Du Geldnoten mit der Post nach Hause schickst, Rhia. Du wirst Deinen Lohn in London brauchen und genug finden, wofür Du ihn ausgeben kannst. Uns geht es gut genug. Da ich weiß, wie dickköpfig Du bist, will ich Dir Folgendes vorschlagen. Wenn Du etwas Silber übrig hast, dann verwahre es an einem sicheren Ort auf, nicht in einer Bank, und denk darüber nach, wie Du es schlau in etwas Sinnvolles investieren kannst, ehe Du es ausgibst.
Durch das Fenster kann ich die Ecke der Landzunge sehen, wo Du immer ohne Stiefel und Hut geritten bist, so dass Dein Haar von Salz und Wind völlig verfilzt wurde. Epona vermisst Dich, aber ich versuche, sie dann und wann zu reiten. Pass gut auf Dich auf und denk daran, gesund zu essen und Dich warm zu halten.
Deine Dich liebende Mutter,
Brigit Mahoney
Rhia schob den Brief zurück in ihre Schürzentasche. Es war immer aufregend, Nachricht von zu Hause zu bekommen, und sie hatte sich den Brief ihrer Mutter aufgehoben, bis sie sich zum Nachmittagstee hinsetzen konnte. Zufrieden sah sie sich im Lagerraum um. Eine komplette Wand war mit Regalen ausgestattet, die bis zur Decke mit Rollen und gefalteten Tuchballen vollgepackt waren. Dort eine Art logische Ordnung zu schaffen, hatte fast einen ganzen Monat gedauert und war immer
Weitere Kostenlose Bücher