Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
ihre eiskalten Finger schon an einem heißen Becher Tee wärmten.
Ein junger Mann setzte sich zu Jacks Füßen und folgte mit seinen großen Augen jeder Bewegung des Minihitaks. Er sah aus, als ob er etwas sagen wollte, sich aber nicht traute.
»Wie heißt du, junger Mann?«
»Oyarak«, sagte er leise.
»Hast du eine Frage, Oyarak?« Jack beugte sich nach vorne.
»Ja, Minihitak. Warum machen Sie das? Warum kommen Sie zu uns? Wegen drei Schneehäusern? Mit Armut, Hunger, Kälte?«
Er zog ein zerknittertes Stück Papier aus der Tasche seines dicken Parkas, breitete es aus und zeigte mit einem Finger darauf. Jack nahm es neugierig in die Hand.
Es war die Seite eines Möbelkatalogs. Die Farben waren verblichen, die Umrisse jedoch klar genug, um es als Abbildung eines europäischen Wohnzimmers mit gehobener Ausstattung erkennen zu lassen. Klar, dachte Jack. Die Polizisten waren hier und haben Zeitschriften für die Jugendlichen dagelassen.
»Du denkst, dass ich früher in so einem Haus gelebt habe wie auf diesem Bild, oder?«
Der Junge nickte schüchtern.
»Erstens, unser Haus war zwar gemütlich, aber nicht ganz so schön wie dieses. Und auch wenn es so schön gewesen wäre, würde ich trotzdem hundertmal lieber hier mit dir und diesem leckeren Tee sitzen, als irgendwo anders in der Welt zu sein!«
Der Junge strahlte übers ganze Gesicht.
»Später, wenn alle versammelt sind«, fuhr Jack fort, »werde ich erzählen, warum ich gekommen bin. Und du bist derjenige, der mich auf die Idee gebracht hat!«
Bis zum Gottesdienst sollte es aber noch eine Weile dauern. Denn jeder Besuch folgte einem inoffiziellen, aber straff geregelten Ritual. Am Anfang mussten Jack und Alfred berichten, wie es den anderen Familien ging, die sie auf dieser Reise schon besucht hatten. Man kannte sich meistens oder wusste zumindest voneinander. Es wurde über Geburten, Dorfstreitereien und Todesfälle geplaudert, Essensvorräte wurden analysiert und die Pelzbestände erkundet. Die Dorfbewohner wollten jedes Detail der Reise wissen. Hochkonjunktur hatten vor allem lustige Anekdötchen. Jack wurde immer wieder aufgefordert, von der Hochzeit zu erzählen, unterbrochen von Rufen nach mehr Essen und Tee. Besonders lustig fanden sie den Vorfall bei der Filmaufnahme, als Jack durch die Igluwand hindurch fast ein Ohr abgeschnitten worden war. Seine Zuhörer konnten das nicht oft genug hören.
Jack musste allerdings aufpassen, was er sagte. Denn solche Berichterstattungen waren der Stoff, mit dem sich diese abgelegenen Schneebewohner monatelang gegenseitig unterhielten. Schnell konnte man aus Versehen Teil einer Legende werden. So erlebte Jack hautnah, wie Kultur und Folklore entstanden. Er empfand es als immenses Vorrecht.
Dem Geschichtenerzählen folgte das Unterhaltungsprogramm.
»Minihitak, wir haben Kunststücke vorbereitet! Willst du sie sehen?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, holten die Kinder ein Seil und bohrten ein kleines Loch in die Hauswand, durch das das Seilende geschoben und mit einem Holzknebel draußen festgemacht wurde. Die gleiche Prozedur erfolgte auf der anderen Seite.
»Schön, wenn man sein Haus kurzerhand umbauen kann, nur um ein Spiel zu machen«, flüsterte Jack Alfred zu.
Jetzt mussten sich die Besucher zurücklehnen und sich als über alle Maßen beeindruckt zeigen, während die Jugendlichen und Kinder Saltos und Purzelbäume rund um das Seil vortrugen.
»Eine Geschichte, Minihitak, eine Geschichte!«
Jetzt war Jack an der Reihe.
»Wollt ihr die Geschichte von der Robbe hören?«
Ein Chor von »Ja, ja, ja!«, funkelnde Augen, gespannte Gesichter.
»Also, es gab diesen Mann, der Robben südlich der Ukalik-Insel jagte. Er fand ein Atemloch im Eis, hängte einen kleinen Stock ins Loch und wartete. Plötzlich bewegte sich der Stock und er wusste: Ein Tier kommt hoch, um Luft zu holen. Er schleuderte seine Harpune ins Loch und zog daran. Vergeblich. Denn es war eine schwere Bartrobbe. Er hielt mit aller Kraft fest, rief die anderen Männer zu Hilfe. Aber bis sie angerannt kamen, war es zu spät. Schwups! Auf einmal hatte die Robbe den Jäger durchs Loch ins eiskalte Wasser gezogen!«
Jack genoss die gespannten Blicke und offenen Münder und wartete, bis Alfred übersetzt hatte.
»Als die Robbe ihn unter dem Eis hinter sich herzog, entdeckte der Jäger eine Luftblase unter seiner Achselhöhle, mitten in seiner dicken Jacke. Mit dieser schaffte er es, seine Lunge mit Luft zu füllen. Zum Glück war der Robbe
Weitere Kostenlose Bücher