Am Rande Der Schatten
noch einmal fragen konnte, was geschah. »Ich habe meine prophetische Gabe aufgegeben für den Fall, dass sie mich gefangen nimmt.«
Solon konnte nicht einmal antworten.
Dorian blieb unter einer schwarzen Eiche stehen, die auf einem Felsvorsprung wuchs, der über die Straße hing. »Sie ist hier. Keine anderthalb Meilen entfernt.« Dorian hielt den
Blick auf den Baum geheftet. »Er wird genügen müssen. Sieh zu, dass du nur auf Stein trittst. Wenn sie Fährten sehen, werden sie mich finden.«
Solon bewegte sich nicht. Dorian war schließlich doch verrückt geworden. Bei den anderen Gelegenheiten war es offensichtlich gewesen: Er war einfach katatonisch geworden. Aber jetzt wirkte er so vernünftig. »Komm weiter, Dorian«, sagte Solon. »Lass uns zur Mauer zurückkehren. Wir können morgen früh darüber reden.«
»Die Mauer wird am Morgen nicht mehr da sein. Khali wird zur Hexerstunde angreifen. Dir bleiben fünf Stunden, um die Männer von dort wegzubringen.« Dorian zog sich auf den Felsvorsprung hinauf. »Wirf mir die Beutel hoch.«
»Khali, Dorian? Sie ist ein Mythos. Versuchst du, mir zu sagen, dass sich anderthalb Meilen von hier entfernt eine Göttin befindet?«
»Keine Göttin. Vielleicht einer der rebellischen Engel, die aus dem Himmel verstoßen wurden und Erlaubnis erhalten haben, auf Erden zu wandeln bis zum Ende der Tage.«
»Klar. Ich nehme an, sie hat einen Drachen dabei? Wir können morgen früh darüber …«
»Drachen meiden Engel«, unterbrach ihn Dorian. Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Wirst du mich jetzt verlassen, da ich dich brauche? Habe ich dich jemals belogen? Du dachtest, auch Curoch sei ein Mythos, bevor wir es fanden. Ich brauche dich. Wenn Khali durch die Mauer kommt, werde ich den Verstand verlieren. Du hast mich gesehen, als ich dachte, ich könnte die Vir zum Guten einsetzen. Das war wie ein Teil Wein und zehn Teile Wasser; dies ist reiner Alkohol. Ich werde verloren sein. Ihre bloße Gegenwart fördert das Schlimmste zutage. Die schlimmsten Ängste, die
schlimmsten Erinnerungen, die schlimmsten Sünden. Mein Hochmut wird zutage treten. Ich werde vielleicht versuchen, gegen sie zu kämpfen, und ich werde verlieren. Oder meine Gier nach Macht wird mich zerbrechen, und ich werde mich ihr anschließen. Sie kennt mich. Sie wird mich brechen.«
Solon konnte den Ausdruck in Dorians Augen nicht ertragen. »Was ist, wenn du dich irrst? Was, wenn es der Wahnsinn ist, vor dem du so lange gewarnt hast?«
»Wenn die Mauer bei Sonnenaufgang noch steht, wirst du es wissen.«
Solon warf die Beutel zu Dorian hinauf und stieg dann vorsichtig auf den Felsen, wobei er dafür sorgte, dass er keinen Fußabdruck zurückließ.
»Was tust du?«, fragte er, als Dorian ihn anlächelte und ein wenig von dem Gold auf die Erde schüttete. Als Nächstes zog Dorian an den Handschellen, und die Eisenketten, die sie zusammenhielten, zerrissen, als seien sie aus Papier gemacht. Er warf eine Hälfte einer Handschelle auf den Haufen Münzen, und sie fiel in die Münzen hinein, als wären sie flüssig. Die drei anderen Teile der Handschellen folgten, und die Münzenhaufen schrumpften jedes Mal weiter. Dorian griff durch das Gold hindurch und zog die Handschellenhälften heraus, die jetzt vergoldet waren. Dann legte er sich je eine um jedes seiner Handgelenke. Er dehnte das zweite Paar und schloss diese Fesseln direkt oberhalb seiner Knie um die Oberschenkel.
Es war erstaunlich. Dorian hatte immer gesagt, dass seine Magie wegen seiner Macht über die Vir schrumpfte, doch hier stand er und verschmolz kunstvoll und mühelos Gold mit Eisen.
Im nächsten Moment hatte Dorian den Rest der Münzen zu vier schmalen Dornen geformt und zu etwas, das so aussah
wie eine Schale. Er hielt inne, und jetzt konzentrierte er sich. Solon konnte die Berührung der Zauber spüren, die an ihm vorbeiflossen, konnte spüren, wie sie sich in das Metall senkten. Nach zwei Minuten hielt Dorian abermals inne und sprach leise zu der schwarzen Eiche.
»Sie wird eine Truppe bei sich haben, die Seelengeschworenen«, sagte Dorian. »Sie haben vieles von ihrer Menschlichkeit aufgegeben, um Khali zu dienen. Aber nicht sie sind die Gefahr. Khali ist es. Solon, ich glaube nicht, dass du sie besiegen kannst. Ich denke, du solltest die Männer von hier fortführen. Bring sie an einen Ort, wo ihr Tod etwas bewirken könnte. Aber … wenn sie es bis nach Cenaria schafft, werden Garoth Ursuuls Söhne zwei Ferali machen. Sie
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