Am Rande Der Schatten
erklang eine Frauenstimme. »Das war mein kleines Geschenk, musst du wissen.«
Solon sah sich um, aber er konnte die Quelle der Stimme nicht entdecken. Er war sich nicht sicher, ob sie nicht aus seinem eigenen Kopf kam. »Tatsächlich ist er vollkommen geheilt.«
Sie lachte; es war ein tiefes, kehliges Geräusch. »Also lebt er noch.«
Solon wäre am liebsten in sich zusammengefallen. Sie hatten Dorian für tot gehalten. Oder zumindest hatten sie es nicht sicher gewusst. »Lass uns das hinter uns bringen«, sagte Solon.
Sie kicherte. »Man hat dir in deinem Leben so viele Lügen aufgetischt, Solonariwan. Man hat dich belogen, als du ein Kind warst. Man hat dich in Sho’cendi belogen. Man hat dir vieles gestohlen. Ich werde dir keine Macht anbieten, denn
die Wahrheit ist, ich kann dir keine Macht geben. Die Vir kommen nicht von mir. Das ist nur eine weitere Lüge. Ich wünschte, es wäre so. Die Wahrheit ist, die Vir sind natürlichen Ursprungs, und sie sind erheblich mächtiger als deine jämmerliche Magie. Die Wahrheit ist, Dorians Magie war schwach, bevor er die Vir benutzte, und du weißt, wie mächtig seine Magie jetzt ist.«
»Diese Magie versklavt. Meister sind wie Trunkenbolde, die nach ihrem nächsten Glas Wein Ausschau halten.«
»Einige von ihnen, ja. Tatsache ist, einige Leute vertragen keinen Alkohol. Aber die meisten tun es. Vielleicht wärst du einer von denen, die keinen Alkohol vertragen, wie Dorian, aber darauf würde ich nicht wetten. Die Wahrheit ist, Dorian hat seinen speziellen Platz in der Sonne stets gemocht, nicht wahr? Es hat ihm gefallen, dass du zu ihm aufgeblickt hast. Dass alle zu ihm aufgeblickt haben. Und was wäre er ohne seine Macht, ohne seine zusätzlichen Gaben? Er wäre so viel weniger als du, Solon. Ohne die Vir hätte er keine Gaben, und seine Magie wäre winzig im Vergleich zu deiner. Also, was würde das für dich bedeuten, wenn du die Vir benutztest? Selbst wenn du sie nur einmal benutztest, nur um die verborgenen magischen Gaben in dir aufzuschließen, von denen du bisher nicht einmal etwas weißt? Was könntest du mit dieser Art von Macht tun? Könntest du nach Seth zurückkehren und dafür sorgen, dass dort alles wieder gut wird? Deinen Platz bei Kaede auf dem Thron einnehmen? Deinen Platz in der Geschichte?« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Und eigentlich ist es mir gleichgültig. Aber ihr seid jämmerlich, ihr Magi. Ihr könnt nicht einmal in der Dunkelheit Magie benutzen. Wirklich.«
»Lügen. Es sind alles Lügen.«
»Ach ja? Nun, dann halte fest an deiner Schwäche, deiner Demut. Aber solltest du jemals deine Meinung ändern, Solonariwan, ist dies alles, was du zu tun brauchst. Die Macht ist da, und sie wartet auf dich.« Und dann zeigte sie es ihm. Es war einfach. Statt nach einer Quelle des Lichts zu greifen, der Sonne oder einem Feuer, oder statt in seine Glore Fryden zu greifen, brauchte er nur nach Khali zu greifen. Eine kleine Drehung, und die Macht war da. Ein Ozean von Macht, der stetig gespeist wurde von Zehntausenden von Quellen. Solon konnte nicht alles verstehen, aber er konnte die Umrisse erkennen. Jeder Khalidori betete morgens und abends. Das Gebet bestand nicht aus leeren Worten: Es war ein Zauber. Er entleerte einen Teil der Glore Fryden aller Menschen in diesen Ozean. Dann gab Khali sie jenen zurück, denen sie sie geben wollte, wann und wie viel sie wollte. Im Kern war es einfach: eine magische Steuer.
Weil so viele Menschen mit einer Glore Fryden geboren wurden, es ihnen aber an der Fähigkeit oder der Unterweisung gebrach, sie zu benutzen, würden Khalis Favoriten stets über reichlich Macht verfügen - und die Menschen würden niemals wissen, dass man ihnen ihre bloße Lebenskraft raubte. Das erklärte die Vir nicht, aber es erklärte durchaus, warum die Khalidori bei ihrer Anbetung stets Schmerz und Folter benutzt hatten. Khali brauchte das Leiden nicht, sie brauchte Gläubige, die intensive Gefühle hatten. Intensive Gefühle waren es, die Menschen mit nur einer winzigen magischen Gabe befähigten, ihre Glore Fryden zu benutzen. Folter war einfach die verlässlichste Methode, um Gefühle von der richtigen Intensität auszulösen. Ganz gleich, ob der Folterer und der Gefolterte und die Zuschauer Abscheu, Verachtung, Furcht, Hass, Lust oder Entzücken verspürten,
es spielte keine Rolle. Khali konnte all diese Dinge benutzen.
»Meine Seelengeschworenen werden dich jetzt finden, und du wirst sterben«, sagte Khali. »Du
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