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Am Rande Der Schatten

Titel: Am Rande Der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brent Weeks
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werdet die süßen Töne des Fleisches singen.«
    Wenn der Wachposten wie die meisten Männer war, würde er sie zwei bis vier Sekunden lang anstarren, sich dann davon überzeugen, dass niemand es bemerkte, und sie dann erneut anstarren. Der Trick war - Jetzt.
    Vi hob jäh den Blick und ertappte den Wachposten genau in dem Moment, als er wieder zu starren begann. Sie drückte ihn mit den Augen an die Wand. Ein Ausdruck schlechten Gewissens huschte über seine Züge, und bevor er dies mit Kühnheit verdecken oder den Blick abwenden konnte, stand sie auf und ging auf ihn zu.
    Er war natürlich ein Khalidori, daher passte sie ihr Verhalten entsprechend an. Einem Khalidori musste man deutlich näher kommen als einem Cenarier, um ihm das Gefühl zu geben, dass man sich für ihn persönlich interessierte. Er musste dazu nicht nur ihr Parfüm riechen können, sondern auch ihren Atem. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und hielt ihn noch eine weitere Sekunde lang mit den Augen gefangen, bis er den Mund öffnete, um zu sprechen.
    »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte sie, wobei sie ihm immer noch mit eindringlicher Miene in die Augen sah. »Darf ich mich hierhersetzen?«
    »Ich habe Euch nicht angestarrt - ich meine …«
    Sie setzte sich dreißig Zentimeter entfernt von der Tür auf seinen Stuhl, die Schultern vorgebeugt, das Gesicht engelsgleich emporgehoben. Sie trug das blonde Haar hochgesteckt, damit die kunstvoll geflochtenen Zöpfe nicht in ihr Blickfeld gerieten.
    Die Versuchung war zu groß. Der Blick des Wachpostens wanderte kurz von ihren Augen zu ihrem Dekolletee hinab,
dann sah er ihr hastig wieder ins Gesicht. »Bitte?«, fragte sie mit einem kleinen Lächeln, das ihm sagte, ja, sie hatte es gesehen, und nein, es machte ihr nichts aus.
    Er räusperte sich. »Ich, ähm, denke nicht, dass das ein Problem wäre«, antwortete er.
    Vi vergaß ihn sofort und lauschte.
    »… kann nicht direkt ins Loch gehen, das würde dem Zweck zuwiderlaufen«, sagte eine Tenorstimme. Das musste Herzog Vargun sein. Aber er klang zuversichtlich.
    Was? Wie kann er zuversichtlich klingen?
    Vi hörte ihren Meister antworten, konnte aber nicht verstehen, was er sagte. Dann sprach der Gottkönig, aber sie bekam nichts anderes mit als »… gewöhnliche Zelle bis zur Verhandlung … dann das Loch …«
    »Ja, Euer Heiligkeit«, erwiderte Herzog Vargun.
    Vi drehte sich der Kopf. Was immer sie planten, in der Stimme des khalidorischen Herzogs lag nichts, was auf einen Gefangenen deutete, der um Gnade flehte. Er klang wie ein gehorsamer Vasall, der ein hehres Ziel verfolgte, an dessen Ende eine Belohnung auf ihn wartete.
    Sie hatte keine Zeit, um zu versuchen, sich das Ganze zusammenzureimen, bevor die Türen geöffnet wurden und ihr Meister Herzog Vargun hinausführte. Im Widerspruch zu dem, was sie soeben gehört hatte, wirkte der Herzog geschlagen, sowohl körperlich als auch geistig; seine Kleidung war unordentlich und schmutzig, und er hielt den Blick fest auf den Boden gerichtet.
    Hu Gibbet drehte sich zu ihr um, als sie vorbeigingen. Der Blutjunge hatte so zarte Gesichtszüge, dass die Beschreibung »gutaussehend« ihm nicht gerecht wurde. Mit feinem blondem Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, großen Augen
und einer wie vom Bildhauer geformten Statur war er selbst mit Mitte dreißig immer noch schön. Er schenkte Vi sein Schlangenlächeln und sagte: »Der Gottkönig wird dich jetzt empfangen.«
    Ein Frösteln überlief Vi, aber sie stand ohne Zögern auf und ging in den Thronsaal. In diesem Raum hatte der verstorbene König Gunder sie beauftragt, Kylar Stern zu töten. Während sie bei Hu Gibbet ihre Lehre gemacht hatte, war Kylar der Lehrling des anderen großen Blutjungen der Stadt gewesen, Durzo Blint, der größeren Respekt und das gleiche Maß an Furcht genoss und weniger Schmähungen über sich ergehen lassen musste als ihr eigener Meister. Der Mord an Kylar hätte Vis Meisterstück sein sollen, der letzte Mord während ihrer Lehrlingszeit. Er hätte Freiheit bedeutet, Freiheit von Hu.
    Sie hatte es vermasselt, und später am selben Tag in eben diesem Raum hatte jemand, den sie den Nachtengel nannten, dreißig Khalidori getötet, fünf Hexer und den Sohn des Gottkönigs selbst. Vi dachte, dass sie vielleicht die einzige Person war, die argwöhnte, dass Kylar der Nachtengel war. Nysos! Kylar wurde am selben Tag zur Legende, an dem ich ihn unter meinem Messer hatte. Ich hätte eine Legende getötet.
    Jetzt gab es keine

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