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Am Rande Der Schatten

Titel: Am Rande Der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brent Weeks
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ganzen Körper. Sie betrachtete seine Lippen, und er trat dicht vor sie, und ihr Kopf neigte sich ihm aus eigenem Antrieb entgegen, ihre Lippen öffneten sich leicht, und er war so nah, dass sie seine Gegenwart wie eine Liebkosung auf ihrer nackten Haut spüren konnte. Ihre Augen schlossen sich, und seine Lippen berührten sie - an der Stirn.
    Vi blinzelte.
    Kylar ließ die Hand fallen, als stünde ihre Schulter in Flammen.
Etwas Schwarzes huschte über die Oberfläche seiner Augen.
    »Was zur Hölle war das?«, fragte Vi scharf.
    »Entschuldige. Ich hätte beinahe - du meinst meine Augen? Ich habe überprüft, ob du einen Glanzzauber benutzt. Ich meine, es tut mir leid. Ich war nur - ähm, lass uns das hinter uns bringen, ja?«
    Jetzt war sie vollkommen verwirrt. Er hatte gedacht, sie habe einen Glanzzauber benutzt? Bedeutete das, dass er - dass er beinahe … nein, gewiss nicht.
    Was denkst du dir nur, Vi? »Tut mir leid, dass ich deinen besten Freund getötet habe, Kylar, willst du ficken?«
    Kylar öffnete die Tür, und Vi sah das klaffende Maul, nach dem der Schlund seinerzeit benannt worden war. Der Schlund sah aus wie ein Drache, der das Maul öffnete, um sie zu verschlucken. Rote Glasaugen mit Fackeln dahinter leuchteten in bösartiger Absicht. Alles andere war aus schwarzem Feuerglas gemeißelt; die schwarze Zunge, auf der sie gingen, die schwarzen Reißzähne, die über ihnen hingen. Sobald sie in das Maul traten, hatten sie kein Licht mehr.
    »Hier stimmt etwas nicht«, sagte Kylar und blieb stehen. »Es hat sich vollkommen verändert.«
    Als Kylar Elene und Uly gerettet hatte, hatte die Rampe im Schlund durch einen kurzen Tunnel hinuntergeführt und sich dann gegabelt. Die Zellen der Edelleute waren auf der rechten Seite gewesen, der Rest auf der linken. Die Decke war überall etwa zwei Meter hoch gewesen und hatte dem Schlund etwas Klaustrophobisches verliehen.
    »Ich dachte, du wärst erst vor wenigen Monaten hier gewesen«, bemerkte Vi.
    »Sieht so aus, als seien die Hexer fleißig gewesen.«

    Sie gelangten in ein gewaltiges, unterirdisches Gewölbe. Die Rampe, die einst zehn Meter in die Tiefe geführt hatte, stürzte jetzt in eine Tiefe von mehr als dreißig hinab. Die Zellen der Edelleute und die Zellen vom ersten und zweiten Stockwerk des Schlundes waren verschwunden. Die Rampe war so breit, dass vier Pferde nebeneinander Platz fanden, und sie wand sich um eine große, zentrale Grube. Auf dem Grund konnten sie einen goldenen Altar sehen, an den ein Mann gekettet war, und Meister, die um ihn herumstanden.
    »Scheiße«, hauchte Vi. »Wir müssen dort hinunter.«
    Kylar folgte ihrem Blick. Sie schaute nicht den Mann auf dem goldenen Altar an. Sie schaute zum südlichen Ende der Grube hinüber, wo ein schmaler Tunnel zur Burg führte.
    Der Ort fühlte sich falsch an. Es waren nicht der Altar oder die Dunkelheit. Der Geruch des Loches hing hier schwer in der Luft. Schwefelhaltiger Rauch kroch über den Boden. Das Ganze erinnerte Kylar an seinen Kampf mit Durzo.
    Unter dem Rauch nahm er noch andere Gerüche wahr. Altes Blut und den klebrigen Gestank von verwesendem Fleisch. Unter der Dunkelheit und dem merkwürdigen Singsang der Hexer und den heiseren Schmerzensschreien aus der Tiefe des Tunnels - barmherzigerweise aus der Richtung, in der das Loch lag, und nicht aus der, in die er und Vi gehen würden - war noch etwas anderes.
    Es war eine Schwere. Bedrückung. Kylar hatte die Nacht so viele Jahre lang zu seinem Heim gemacht, dass er sich nicht vor der Dunkelheit fürchtete - dachte er. Aber hier, in der bloßen Luft, die er atmete, hier war etwas Tieferes, Dunkleres, Älteres und Bösartigeres, als er es sich vorstellen konnte. Der bloße Gestank erinnerte ihn ans Töten. Er erinnerte sich an die schändliche Häme, die er verspürt hatte, als die Schlinge
sich um Rattes Knöchel geschlossen hatte. Er erinnerte sich an den Tag, an dem er den Eintopf eines Sattelmachers vergiftet hatte und der Mann keinen Hunger gehabt und den Eintopf seinem Sohn überlassen hatte. Er erinnerte sich an die genaue Purpurschattierung, die das Gesicht des Jungen angenommen hatte, während seine Kehle zugeschwollen und er erstickt war. Er erinnerte sich an hundert Taten, derer er sich schämte, an hundert andere Dinge, die er hätte tun sollen und nicht getan hatte. Wie gelähmt stand er da und atmete die widerwärtige Luft ein.
    »Komm weiter«, sagte Vi. In ihren riesigen Augen stand ein gehetzter Ausdruck, aber sie

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