Am Rande Der Schatten
wirkte.
»Wollt ihr mir erzählen, dass ihr es nicht getan habt, seit ihr Cenaria verlassen habt?«, fragte Tante Mea. »Gewiss habt ihr euch manchmal am Morgen davongestohlen, wenn Uly noch schlief? Nein? Diese Reise muss wie lange gedauert haben - drei Wochen? Das ist eine Ewigkeit für euch junge Leute. Nun. Heute Nachmittag werden Uly und ich einen schönen langen Spaziergang unternehmen. Das Bett in eurem Zimmer knarrt ein wenig, aber wenn ihr euch über solche
Dinge zu sehr den Kopf zerbrecht, wird Uly niemals einen kleinen Bruder bekommen, hm?«
»Bitte«, flehte Kylar kopfschüttelnd. Elene wand sich in Qualen.
»Hmpf«, machte Tante Mea und sah Elene an. »Nun. Wenn ihr fertig mit eurem Frühstück seid, warum gehen wir dann nicht zu meinem Sohn?«
Braen Schmied arbeitete in einer Werkstatt direkt neben dem Haus. Er hatte die reizlosen Gesichtszüge und die breiten Schultern seiner Mutter. Als sie näher kamen, warf er einen Fassreifen, den er geformt hatte, auf einen Stapel gleichartiger Reifen und zog dann seine Handschuhe aus. »Morgen«, sagte er.
Als Erstes sah er Elene an. Ein schneller Blick auf ihr vernarbtes Gesicht und dann ein zu anerkennendes Abwägen ihrer Vorzüge. Es war nicht die schnelle Musterung, mit der Männer instinktiv jede Frau bedachten. Dagegen hätte Kylar nichts einzuwenden gehabt. Aber dies war nicht nur ein einzelner Blick. Der Mann starrte Elene direkt ins Gesicht. Oder vielmehr starrte er auf ihre Brüste.
»Freut mich, euch kennenzulernen«, sagte Braen und hielt Kylar die Hand hin. Er blickte Kylar abschätzend an. Und wie vorauszusehen war, versuchte er, Kylars Hand zu zerquetschen.
Ein Rinnsal Magie regelte das Problem. Ohne ein Wispern von Anspannung in seinem Gesicht oder seinem Unterarm umfasste Kylar die monströse Pranke in seiner Hand und drückte sie, bis sie beinahe brach. Eine Spur mehr, und jeder Knochen in der Hand des Mannes würde zerspringen. Einen Moment später ließ er nach und nahm es ohne Magie mit dem Mann auf, eine rohe Hand in der anderen, Muskel an Muskel und Auge in Auge - selbst wenn er aufblicken musste und Braen um ein
Drittel schwerer war als er. Die Panik wich aus Braens Augen, und Kylar konnte erkennen, dass er sich fragte, ob er sich die anfängliche Kraft von Kylars Griff nur eingebildet hatte.
»Kylar«, murmelte Elene mit zusammengebissenen Zähnen, als gebärde er sich zu aufdringlich. Aber Kylar hielt dem Blick des anderen Mannes entschlossen stand. Hier wurde etwas entschieden, und wenn es primitiv und barbarisch und schäbig und dumm war, war es trotzdem wichtig.
Elene schätzte es nicht, ignoriert zu werden. »Ich nehme an, als Nächstes werdet ihr die Größe eurer …« Sie brach verlegen ab.
»Gute Idee«, bemerkte Kylar, als der Mann endlich seine Hand losließ. »Was sagst du dazu, Braen?« Kylar löste seinen Gürtel.
Glücklicherweise lachte Braen nur. Die anderen folgten seinem Beispiel, aber Kylar mochte ihn trotzdem nicht. Braen mochte ihn ebenfalls trotzdem nicht. Kylar konnte es erkennen.
»Nun, freut mich, euch kennenzulernen«, wiederholte Braen. »Ich muss einen großen Auftrag fertigstellen.« Er neigte kurz den Kopf, griff nach einem Hammer und bog verstohlen seine schmerzenden Finger.
Für den Rest des Vormittags und auch am Nachmittag führte Tante Mea sie in Caernarvon herum. Obwohl es größer war als Cenaria, wirkte die Stadt nicht so chaotisch wie Kylars Heimat. Die meisten Straßen waren gepflastert und breit genug für zwei Wagen und zahlreiche Fußgänger gleichzeitig. Händler, die mit ihren Läden diesen Platz für sich beanspruchten, wurden so schnell bestraft, dass nur wenige es versuchten. Wann immer zwei Wagen die Straße befuhren, wurden die Menschen zusammengedrängt, aber es gab hier allgemein akzeptierte Richtmaße, und zwar schon so lange,
dass die Wagen alle in fünfzehn Zentimeter tiefen Furchen im Pflaster rollten. Selbst die Abwässer in den Straßen flossen durch Rohre, und es waren in regelmäßigen Abständen Gitter eingelassen, um neue Abwässer zu sammeln. Das Ergebnis war, dass die Stadt beinahe nicht wie eine Stadt roch.
Burg Caernarvon beherrschte den Nordteil der Stadt. Sie wurde bisweilen wegen ihres bläulichen Granits der Blaue Riese genannt. Die blauen Mauern waren fugenlos und so glatt wie Glas, bis auf die zahlreichen Bogenschlitze und Mordlöcher an den Toren. Vor zweihundert Jahren, erzählte Tante Mea, hatten achtzehn Männer die Burg sechs Tage lang gegen
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