Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
man sich viele aktuelle Fälle anschaut, die vor den Gerichten verhandelt werden, dann ist die Eile, mit der man da oft zu einem Urteil kommt, besorgniserregend. Viele von Ihnen werden in der Zeitung von dem Fall Daniel Stockbridge gelesen haben – das ist einer der sogenannten Banker Butchers . In seinem Fall beruht alles nur auf vagen Indizien, aber dennoch wird mit aller Macht eine Verurteilung angestrebt. Da muss man sich doch fragen, woran das liegt.«
Hinterher wartete Keisha stundenlang, so kam’s ihr jedenfalls vor, während Ian Stone von diesen ganzen linken Studis mit Beschlag belegt wurde. »Sind Sie nicht auch der Auffassung, dass Tony Blair als Kriegsverbrecher angeklagt werden sollte?«
»Würden Sie nicht auch sagen, dass Einkesselungen durch die Polizei einen Verstoß gegen den Human Rights Act darstellen?« Die krochen ihm dermaßen hinten rein, es war echt peinlich. Und als sie seine Antworten hörte, hatte Keisha den Eindruck, dass Ian Stone das möglicherweise auch so sah.
Irgendwann war sie dann die Letzte, die noch bei ihm im Saal geblieben war. Er sah sie gereizt an und sagte: »Ich muss jetzt wirklich los, tut mir leid.«
»Sie haben über den Fall Stockbridge gesprochen.«
»Ja?« Er fummelte mit seinem iPhone rum. Er trug eine Strickweste, hatte graues Haar und einen kleinen Pferdeschwanz. Du liebe Güte!
»Ich bin an dem Fall beteiligt. Ich bin … äh … eine Zeugin.«
»Ja?« Nun sah er sie an.
»Meinen Sie, ich sollte es tun? Ich meine: aussagen? Wenn ich was weiß?«
»Keine Ahnung, äh … Wie heißt du?«
»Keisha.«
»Tja, das weiß ich nicht, Keisha. Was spricht denn dagegen?«
»Na ja, mal angenommen, ich weiß was, aber wenn ich es verrate, schade ich damit jemandem. Jemandem, der mir wichtig ist.«
Sein Blick huschte zwischen ihr und dem Ausgang hin und her. »Das ist eher eine ethische Frage. Ich fürchte, ich habe jetzt nicht die Zeit …«
»Können die mich festnehmen, wenn ich nicht aussagen will? Dürfen die das?«
»Na, so weit wird’s schon nicht kommen.« Mist, das funktionierte nicht. Er bewegte sich auf den Ausgang zu und fummelte dabei immer noch an seinem iPhone herum.
»Kannten Sie früher eine Mercy Collins?«
»Was? Nein, ich glaube nicht. Ich muss jetzt los, ich werde erwartet.«
»Sie war meine Mutter. Sie hat bei Ihnen studiert.«
»Tja, bei mir studieren viele Leute.«
Was sollte sie tun? Was sollte sie sagen, damit er nicht einfach den Saal verließ? Sie kramte in ihrer bestickten Tasche – Mercys Tasche. »Schaun Sie mal!«, sagte sie zu laut und hielt ihm ihre Geburtsurkunde hin. »Sind Sie das?«
Er nahm das Dokument, betrachtete es, runzelte die Stirn. Dann machte er den Mund auf – und wieder zu. Er gab ihr die Urkunde sehr vorsichtig wieder zurück, als wäre es eine Bombe. »Komm mit«, sagte er.
Er ging mit ihr eine Treppe hinauf, auf eine Etage voller leer stehender Seminarräume. Dann betraten sie so eine Art Lehrerzimmer, und er setzte Wasser auf und machte ihr einen Nescafé. »Ich hab nichts Besseres, tut mir leid«, sagte er.
»Schon okay«, sagte sie, als ob sie jemals Kaffee trinken würde. Igitt.
»Also. Diese Mercy ist deine Mutter?«
»War. Sie ist kürzlich gestorben.«
»Das tut mir leid.« Er sah aus, als hoffte er, dass sie jetzt nicht in Tränen ausbrechen würde.
»Erinnerst du dich an sie?«, fragte Keisha und wollte aus irgendeinem Grund unbedingt, dass er Ja sagte.
»Äh … Ich weiß nicht so genau. Das ist lange her, und ich habe in all den Jahren so viele Studentinnen gehabt. Verstehst du?«
»Legst du denn öfter welche flach?« Sie trank einen Schluck und verbrannte sich die Zunge. Warum zum Teufel zahlten die Leute drei Pfund fünfzig für so ein Zeug?
Ian Stone sah sehr jämmerlich aus. »Äh … nein, natürlich nicht.«
»Aber meine Mutter schon, oder?«
»Ich weiß es nicht. Die Sache ist die, Keisha: Ich habe eine Vasektomie machen lassen. Und daher weiß ich nicht, ob es überhaupt sein kann, dass … Weißt du, das bedeutet …«
»Ich weiß, was das bedeutet. Ich bin ja nicht doof. Wann?«
»Hm. Vor ungefähr zwanzig Jahren.«
Sie nahm noch einen winzigen Schluck. »Wieso hast du das gemacht?«
»Ich war wohl der Meinung, es gäbe schon genug Menschen auf der Welt und es wäre egoistisch, sich fortzupflanzen.«
Wenn hier einer egoistisch war, dann doch wohl er, dachte sie. »Tja, ich bin fünfundzwanzig.«
»Oh. Bist du das?«
»Ja. Es muss ungefähr 1984 gewesen sein, dass
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