Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
über die Augenlider rann, und vielleicht litt sie ja schon an Verfolgungswahn, aber sie hatte den Eindruck, dass die Leute sie alle anschauten, die Clique der Jugendlichen vor dem Hähnchen-Imbiss und die schwarze Frau mit dem Kinderwagen. Alle Schwarzen, so ihr Gefühl, starrten sie an und dachten: Da ist sie, die Rassistin. Ja, das ist sie .
Endlich daheim zog sie sich sofort Dans Pullover über. Sie schauderte in der leeren Wohnung – nicht, weil es kalt gewesen wäre, sondern weil er nicht da war. Dann zog sie den teefleckigen Brief wieder aus dem Papierkorb und ließ sich auf dem Fußboden nieder. Das erschien ihr angesichts der Abgründigkeit ihrer Gefühle irgendwie passender, als sich einfach nur aufs Sofa zu setzen. Sie dachte daran, wie sie einmal grippekrank von der Arbeit gekommen und so zu Boden gesunken war – und wie Dan sie aufgehoben und ins Bett getragen hatte. Jetzt war niemand da, der sie hätte aufheben können.
Was war sie doch für eine Idiotin! Natürlich war sie noch nicht wieder so weit, zur Arbeit zu gehen. Sie konnte nicht so tun, als würde sie sich tatsächlich für Tampons oder Frühstücksflocken interessieren. Mein Gott, wie peinlich! Sie schlug ihren Kopf ganz sacht gegen die Tür. Chloe, Tory und Fliss würden sich ohne Ende über sie lustig machen. Es war ein Fehler gewesen, den sie früher niemals begangen hätte. Doch als sie von der Toilette wiederkam, waren die Snax-Leute tatsächlich schon eingetroffen: ein grau melierter Managertyp, dessen Ehering ihm fast den Wurstfinger abschnürte, und eine perfekt geschminkte und gestylte Blondine mit harten Gesichtszügen.
»Ah, da ist ja auch Charlotte«, sagte Simon mit seiner aufgesetzten Herzlichkeit und zeigte ihr damit, dass er nervös war. Es wäre ein großer neuer Account für ihre Firma, und PR-Agenturen hatten unter der Rezession ziemlich zu leiden gehabt.
»Tee? Oder ein kleiner C afé au Lait ?« Argh. Simon war wirklich ein ausgemachter Quatschkopf. Sie murmelten etwas über die Verkehrssituation. »O ja, wem sagen Sie das. Dank der Northern Line bekomme ich vorzeitig graue Haare! Nein, nicht hinsehen!« Aufgesetzte Lachsalven.
Charlotte hievte ihre Mundwinkel zu einem Lächeln empor und wischte sich die feuchten Hände an ihrem Kleid ab. Früher hätte sie ganz genau gewusst, wie solche Leute zu umgarnen waren. »Oh, hallo! Hatten Sie es weit? Tolle Schuhe! Oh, es ist eine solche Ehre, für diese Marke arbeiten zu dürfen, ich esse das ständig selber …«
Jetzt aber lächelte sie die beiden nur ausdruckslos an, und das Einzige, woran sie denken konnte, war: Mein Verlobter sitzt im Gefängnis. Wussten Sie das schon? Mein Verlobter sitzt im Gefängnis. Ich muss ihn da rausholen! Er ist da eingesperrt! Sie kämpfte ihre Hysterie nieder und wackelte auf den unbequemen Absätzen in den Konferenzraum.
Das Problem begann damit, dass die Blondine mit verächtlichem Blick die Unterlagen durchblätterte, die Charlotte hatte vorbereiten sollen. Da sie spät dran war, hatte sie sie im Vorbeigehen ausgedruckt, ohne sie sich noch einmal anzusehen.
Simons Jargon-Generator lief bereits auf Hochtouren – »Social-Media-Plattformen … Suchmaschinen-Optimierungsstrategien … das ganz große Rad drehen …« –, da kräuselte die Frau die Lippen und fragte: »Äh, was ist denn das?«
»… Paradigmenwechsel im Snack-Konsumverhalten … Wie meinen?«
»Das hier.« Sie fuchtelte mit einem der Bogen. »Was hat das hier zu suchen?«
Charlottes Herz machte einen Satz. »O Gott, das ist meins! Entschuldigung! Warten Sie, warten Sie.« Sie griff danach, doch Simon war schneller. Auf dem Blatt stand: UNSCHULDIG – Sind auch Sie ein Opfer der Justiz? Sie hatte die falsche Datei ausgedruckt. Mist, Mist, Mist.
Charlotte wurde knallrot. Einen Moment überlegte sie hektisch, wie sich Justizirrtümer mit kalorienarmen Snacks in Verbindung bringen ließen. Es ist wirklich ein Verbrechen, dass andere Snacks so viele Kalorien haben . Nein, nein, eine hundsmiserable Idee. »Es tut mir sehr leid. Ich habe die falschen Unterlagen ausgedruckt.« Und zu ihrem Entsetzen drangen die Tränen, die sie schon den ganzen Tag zurückgehalten hatte, in einer Art schrillem Schluchzer aus ihr hervor. »Es tut mir leid!« Sie hielt sich die Hände vor den Mund. »O Gott, es tut mir so leid!«
Die Blondine, der Managertyp, Fliss und Simon starrten sie an, während sie verzweifelt versuchte, die Tränen wieder in den Griff zu bekommen. Der Managertyp
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