Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
sein lassen? Deine Mutter hätte doch nichts dagegen, oder?«
»Nee.« Rachel schluckte. »Aber Ronald. Ach Gott, unser Anthony fehlt mir so.«
So sah das also aus. Keisha setzte sich zu ihr und schaute auf die Uhr; ihre Pause war nicht allzu lang. »Das ist jetzt ungefähr einen Monat her, oder?«
Rachel nickte und quetschte das benutzte Taschentuch in ihrer Hand. »Bist du ihm damals begegnet? Er steckte so voller Leben und Kraft. Als er ein Junge war, hatte Mum solche Angst um ihn, dass sie ihn oft zu Hause eingeschlossen hat. Wegen den Gangs und so. Sie hat immer gesagt: Eines Tages wird man diesen Jungen in einem Sarg heimbringen, und das bricht mir dann das Herz.« Sie schnäuzte sich. »Wir dachten eigentlich, er hätte die Kurve gekriegt. Er hat Tanika kennengelernt, die Kinder bekommen, diesen Laden geleitet. Aber dann …« Sie fing wieder an zu weinen. »… hat er’s doch noch geschafft, sich umbringen zu lassen.«
Keisha wusste nicht, was sie sagen sollte. Das hier war gefährliches Terrain. »Ich dachte, das wäre irgend so ein Banker gewesen, der einen Wutanfall hatte? Eine zufällige Sache.«
Rachel tupfte sich die Augen ab, sah sich kurz um und senkte die Stimme. »Wenn du’s nicht weitererzählst: Anthony hatte sich Geld für den Laden gepumpt. Er hat Verluste gemacht. Und als er Geld brauchte, ist er zu seinen alten Bandenkumpels gegangen.«
Keisha drückte sich die Fingernägel in die Hand. Sie wusste mehr darüber, als ihr lieb war, dass Chris ein- oder zweimal daran beteiligt gewesen war, Schulden einzutreiben. Und zwar für nicht gerade seriöse Gläubiger. »Was willst du damit sagen?«
»Ach, ich weiß auch nicht. Die haben mir nie was erzählt, Anthony und Ronald. Ich bin ja nur die kleine Schwester. Aber Ronald sitzt jeden Abend da drüben im Büro über der Buchhaltung und lässt keinen auch nur in die Nähe seines Computers, was auch immer da drauf ist. Ich weiß, dass Anthony sich Sorgen gemacht hat. Und ich weiß, dass ich mir Sorgen gemacht habe – um ihn.«
»Aber … du hast doch der Polizei erzählt, es wäre dieser Banker gewesen. Und der hätte irgendwelche rassistischen Sachen gesagt.«
Rachel schniefte. »Mel hat das gesagt, und ich dachte, ich könnte mich auch an so was erinnern … keine Ahnung. Ich war halt erschüttert.«
Erschüttert genug, um Charlotte einen Zahn auszuschlagen, ja. Keisha kam zu dem Schluss, dass Rachel zwar eine eingebildete Nervensäge war, aber viel mehr wusste, als man meinen würde. »Tut mir leid. Ist echt schlimm, was mit deinem Bruder passiert ist.«
»Danke.« Rachel schniefte noch ein bisschen vor sich hin. »Und danke, dass du die Kasse übernommen hast. Ich hab das echt nicht so drauf.«
In diesem Moment kam Dario herein und meinte, es wär ja schön, dass sie Zeit hätten, zu plaudern und sich die Haare zu bürsten oder was auch immer, aber er würde hier eine Bar betreiben, und könnten sie bitte schön ihre Ärsche wieder in Bewegung setzen? Rachel sah Keisha an und verdrehte die Augen, und dann standen sie auf, und anschließend kamen sie eigentlich ganz gut miteinander klar.
Das Barpersonal gewöhnte sich allmählich an Keisha, und als es so weit war, war es ein Leichtes für sie, im ganzen Gebäude herumzugehen, ohne dass irgendwer auf sie achtete. Die Tür zum hinteren Bereich des Clubs öffnete sich mit einem Code, den jeder aus der Belegschaft kannte. Sie führte auf einen Korridor, von dem der Personalraum abging, das Lager, das voller Fässer und Krimskrams stand, und, auf der anderen Seite, das Büro, in dem Anthony Johnson an seinem eigenen Blut erstickt war. Am Ende dieses Korridors gab es einen Notausgang, der auf eine Gasse hinausführte, die voller Mülltonnen stand. Keisha hatte diese Tür offen stehen sehen, wenn sie Lieferungen bekamen, und da war kein Alarm losgegangen. In geschlossenem Zustand war diese Tür leicht zu übersehen.
Nachdem sie einige Abende lang zugesehen hatte, wie Leute Fässer herein- und Müll hinausschleppten oder für eine Zigarettenpause hinter der Tür verschwanden, beschloss sie, es auszuprobieren. Sie schlich sich mit einer Ladung schmutziger Gläser am Büro vorbei und gab der Tür einen Stups mit dem Fuß. Sie öffnete sich. Weiter geschah nichts. Aber vielleicht ging der Alarm ja woanders los?
Sie ging in den Personalraum, wo Dario sich gerade frisierte. »Hey, ich hab grad aus Versehen die Tür vom Hinterausgang aufgemacht.«
»Und?«
»Na, da steht doch was von wegen
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