Am Samstag aß der Rabbi nichts
den Kopf zur Tür
herein: «Ihr Vater ist aufgewacht, Mr. Goralsky.»
Während sie die Treppe hinaufstiegen, bat Goralsky:
«Erwähnen Sie die Friedhofsgeschichte mit keinem Wort, Rabbi. Ich will nicht,
dass er sich aufregt.»
«Natürlich nicht.»
Der Alte war in einen Sessel gebettet und streckte eine dünne,
blau geäderte Hand zum Gruß aus. «Sehen Sie, Rabbi, ich hab gefastet, und es
geht mir schon besser.»
«Sie sehen gut aus, Mr. Goralsky. Das freut mich wirklich.»
«Ich bin noch nicht ganz gesund …» Der Alte warf seinem Sohn
einen vorwurfsvollen Blick zu. «Benjamin, soll der Rabbi stehen? Bring ihm
einen Stuhl.»
«Bemühen Sie sich nicht», wehrte der Rabbi ab, doch Ben zog
schon einen Stuhl herbei. Er selbst setzte sich auf den Bettrand.
«Es ist das erste Mal in meinem ganzen Leben, dass ich bei Kol
Nidre nicht dabei war», sagte der Alte. «Ben sagt, Sie haben eine schöne
Rede gehalten.»
Der Rabbi schielte zu Ben hinüber. Bens weit aufgerissene Augen
waren eine einzige stumme Bitte, ihn nicht bloßzustellen. Der Rabbi
schmunzelte. «Am Jom Kippur gibt man sich eben besonders Mühe. Nächstes
Jahr, so Gott will, werden Sie selbst zuhören, Mr. Goralsky.»
«Wer weiß, ob ich’s erlebe … Ich bin ein alter Mann. Ich hab
mein Leben lang schwer gearbeitet.»
«Gerade deshalb sind Sie noch so rüstig. Harte Arbeit …»
«Das sagt er, seit ich ihn kenne», knurrte Ben.
Der Greis blickte seinen Sohn tadelnd an. «Benjamin, du hast
den Rabbi unterbrochen.»
«Ich wollte nur sagen, dass harte Arbeit noch keinem
geschadet hat … Machen Sie sich keine Sorgen, was nächstes Jahr sein wird. Sie
müssen vor allem rasch gesund werden.»
«Sie haben Recht. Man weiß ja doch nicht, wer an die Reihe
kommt. Ich hab gehört, dass der junge Hirsh am Kol-Nidre -Abend gestorben
ist. Er war ein braver Junge und so gebildet …»
«Er war ein Säufer», murmelte Ben.
Der Alte zuckte die Achseln. «Das war früher. Trinken ist etwas
Schreckliches. Vor ein paar Tagen hab ich in der jüdischen Zeitung gelesen,
dass Trinken eine Krankheit ist … Ein Arzt hat darüber geschrieben. Hirsh
konnte nichts dafür.»
«Er hat sich das Leben genommen, Papa.»
Der Alte nickte traurig. «Das ist was Schreckliches … Er hat
sicher viel mitgemacht. Vielleicht, weil er ein Säufer war. Er war schließlich
ein gebildeter Junge. Vielleicht war es für ihn dasselbe wie für andere Leute
der Krebs.»
«Kannten Sie ihn gut?», fragte der Rabbi.
«Isaac Hirsh? Und ob! Ich kannte ihn, da hat er noch in d en
Windeln gelegen. Und seinen Vater und seine Mutter, die kannte ich auch. Sie
war eine feine Frau, aber er … » Nachdenklich neigte er den Kopf zur Seite.
«Ja, ja … schwer zu sagen, was das Rechte ist. Da ist
einer wie der alte Hirsh – sein Leben lang faul und hinter den Frauen her; es
hieß, keine anständige Frau hat sich von ihm ein Kostüm machen lassen, weil,
bei der Anprobe … Na, Sie verstehen schon. Er konnte die Hände nicht bei sich
behalten. Und als seine Frau starb, hat er kaum das Trauerjahr abgewartet, ehe
er wieder heiratete. Aber sein Sohn … Der Isaac, der ging auf die Universität,
und Stipendien hat er gekriegt, und ein Doktor ist er geworden … Ich hab mich
abgerackert mein Leben lang und die Gebote gehalten, aber keins von meinen vier
Kindern ist auf die Universität gegangen.»
«Nun …»
«Aber eins muss ich sagen, Rabbi. Meine Kinder sind alle gesund
und stark und haben’s zu was gebracht. Und sie sind gut zu mir. Aber Isaac
Hirsh … Er ist nicht zur Beerdigung von seinem eigenen Vater gekommen. Und
jetzt ist er selber tot … Nein, nein – man weiß nie, was das Rechte ist.»
«Dann … Vielleicht denken Sie jetzt auch anders über Hirshs
Begräbnis?», sagte der Rabbi tastend.
Der Greis kniff die Lippen zusammen. «Nein, Rabbi. Gesetz
ist Gesetz.»
27
Der District Attorney ließ keine offizielle Meldung
veröffentlichen. Nur im Lynn Examiner stand eine kurze Notiz, dass die
Staatsanwaltschaft die näheren Umstände im Zusammenhang mit dem Tod von Isaac
Hirsh am 18 . September, wohnhaft gewesen Bradford Lane 4 , Barnard’s Crossing, untersuche. Möglicherweise werde ein
Antrag auf Exhumierung der Leiche gestellt werden.
Marvin Brown entdeckte den Artikel, als er morgens während
der Kaffeepause die Zeitung durchblätterte. Er rief sofort Mortimer Schwarz an.
«Mort, da steckt der Rabbi dahinter – jede Wette!»
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