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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Wissen, denn Peter reagierte nur mit einem Achselzucken, legte Emil den Weinsteiger auf den Schreibtisch, zusammen mit einigen anderen alten Getreuen: dem zerfledderten Balladenbuch, einer Taschenbuchausgabe des »Stuttgarter Hutzelmännlein« mit Schwind-Illustrationen und der »Königin Phantasie«, einer Sammlung romantischer Erzählungen. Es waren dieselben Bücher, mit denen sich Peter früher in die Hollywoodschaukel verzogen hatte und Nachmittage lang keinen Mucks gemacht hatte. Anfangs hatte Emil ihm vorgelesen, bald bediente er sich selbst.
    Carla schüttelte den Kopf in Emils Richtung, zog ihn auf den Flur und schloß die Tür. Sie war erschöpft, die Unterlippe zitterte. Sie war barfuß und trug über dem Kleid eine rote Küchenschürze mit großen Taschen.
    »Er sagt immer, was willst du denn, ich bin nicht schmutzig, ich bin nur müde, laß mich in Ruhe. Manchmal schläft er, aber meistens liegt er einfach nur da. Wenn ich lüften will, steht er auf und macht das Fenster wieder zu, ihm sei kalt. Dabei ist die Luft zum Schneiden. Und dieses furchtbare Schummerlicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kriege ihn einfach nicht raus hier, nicht ins Bad, nicht vor die Tür. Seit drei Tagen liegt er nur im Bett. Das Aquarium hab ich versorgt, das hätte er nicht geschafft. Und den Fernseher aus dem Gästezimmer hab ich ihm reingestellt, der läuft die ganze Zeit. Homeshopping, das gucke ja nicht mal ich.« Sie rollte mit den Augen. »Gestern hab ich mich zu ihm gesetzt und mit geschaut. Ich dachte, dann komme ich an ihn ran, im Gespräch über etwas, das ihn interessiert. Aber er sagte nur, ich solle still sein, er könne sonst nichts verstehen. Im Etzelweg hatten sie den Fernseher in einem Schrank, nur für die Nachrichten. Er sagte, das sei eine Giftkiste, besonders für die Kinder. Mit dem Essen ist es auch schwierig, er läßt alles stehen. Tomatensuppe mit Bratwurstklößchen hab ich ihm gestern gemacht. Jetzt koche ich Grießbrei mit Apfelmus, davon ißt er dann wieder nur zwei Löffel. Wenn er auf die Toilette geht, bleib ich vor der Tür. Ich habe den Riegel kaputtgemacht, daß er sich nicht einschließen kann, irgendwie habe ich Angst.«
    Emil sah auf die geschlossene Kinderzimmertür. Auf dem dunkelbraunen Holz glänzte ein kleines Messingschild: ›Der Lütte‹. Zu Peters Teenagerzeiten war die Tür mit Aufklebern bedeckt gewesen: Greenpeace, Anti-Atom, Friedenstauben. Damals hatten alle Türen des Rauschen Hauses plattdeutsch witzelnde Messingschilder getragen. Die meisten waren inzwischen verschwunden. Das untere Stockwerk strahlte im optimistischen Weiß der frühen Neunziger. Hier oben hatten sich ein paar kuschelige Geschmacklosigkeiten vergangener Jahre gehalten, unter anderem der grüne Teppichboden, über den Carlas nackte Füße jetzt scharrten. Ihre Finger wanderten aus den Schürzentaschen, zerrupften ein Tempotaschentuch, fuhren wieder zurück ins Gesicht und bohrten in den Augenwinkeln. Emil fing ihre Rechte ab. »Laß das doch, du tust dir noch weh.« Carla fiel gegen ihn, und er hielt sie fest. Schluchzer, Husten, Nivea-Geruch, ihr schneller Herzschlag. An ihrem Scheitel war der Ansatz sichtbar. Der Kontrast zwischen dem gefärbten Braun und dem borstigen Weiß der nachwachsenden spröden Haare rührte Emil so, daß er sie fester umarmte. Er streichelte ihren Rücken, fühlte das elastische Band des BHs durch den dünnen Kleiderstoff, die weiche Nachgiebigkeit ihres Körpers, die drängenden, ein wenig schlaffen Brüste, den runden Bauch, ganz anders als Veronika, bei der in der Umarmung jeder Knochen spürbar war.
    »Was soll ich bloß machen? Es ist doch noch gar nicht lange her, daß er bei uns gewesen ist, mit den Jungs, alle ganz fröhlich. Sie wollten irgendwo zelten, in einem Park, ich bin nicht richtig schlau daraus geworden. Die erzählen ja immer viel, die drei. Bißchen speckig sahen sie aus. Mia war nicht mit, aber das ist nichts Neues, nicht wahr? Seitdem hab ich sie nicht mehr gesehen. Niemand ging ans Telefon. Wenn ich in der Praxis anrief, lief der Anrufbeantworter. Auf dem Handy war ständig die Mailbox. Einmal hab ich ihn erwischt, da war er total kurz angebunden, er habe einen Patienten, es passe jetzt nicht. Und nichts von den Kindern, obwohl ich aufs Band gesprochen habe, daß sie zum Pfannkuchenessen kommen sollen. Das lieben sie doch so. Hajo hat abgewiegelt: Die haben ihr eigenes Leben, laß sie in Frieden, vielleicht sind sie weggefahren. Man soll sich

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