Am Sonntag blieb der Rabbi weg
Lieder aus dem Ghetto. Blaue Noten. Er ist unser Hauspoet.»
Der Rabbi sah neugierig zur Tür und entdeckte einen langen, hellhäutigen Neger in schwarzseidener Nehru-Jacke und weißem Rollkragenpullover. Er mochte um die vierzig sein. Um den Hals trug er an einer Silberkette ein Medaillon, mit dem er lässig spielte. Während Richardson ihn ins Zimmer führte, lächelte er da und dort Bekannten einen Gruß zu, wobei zwischen einem schmalen Schnurrbart und einem Spitzbärtchen blendend weiße Zähne sichtbar wurden. Er trug den Kopf im Nacken und sah zwischen halb geschlossenen Lidern auf Richardson herab, der ihn vorstellte.
«Mrs. Small, Rabbi Small – Lucius Rathbone … Rabbi Small ist diese Woche für Bob Dorfman eingesprungen, Lucius.»
«Wir müssen jetzt wirklich gehen, Professor. Unser Babysitter wartet.»
«Nur noch eine Tasse Kaffee!»
Der Rabbi ließ sich überreden. Es saßen noch etwa ein Dutzend Leute um den Tisch. Der Lyriker stand im Mittelpunkt des Gesprächs.
«Was schreiben Sie gerade Interessantes, Lucius?»
«Was halten Sie von der afroamerikanischen Studentenliga?»
Dem Rabbi wurde klar, dass die Leute hauptsächlich gekommen waren, um den Dichter zu treffen. Der genoss es sichtlich, so umschwärmt zu werden. Seine Antworten kamen prompt; meist ironisch, oft sogar bissig und stets sehr autoritativ. Es machte ihm offensichtlich Spaß, den Fragesteller in Verlegenheit zu bringen. Wenn es ihm gelang, warf er den Kopf zurück und lachte schallend, wie um zu zeigen, dass es nicht so ernst gemeint sei. Das Spiel amüsierte ihn. Als der Rabbi auf die Uhr blickte, rief er ihm über den Tisch hinweg zu:
«Sie wollen doch nicht schon aufbrechen, Rabbi?» Es klang fast, als sei ihm das nicht recht.
«Ich fürchte, wir müssen …»
In das Gesicht des Dichters trat ein lauernder Zug. «Mein Onkel war nämlich auch Rabbi.»
«Ach ja?» Der Rabbi merkte, dass Rathbone etwas im Schilde führte.
Rathbone begann plötzlich mit dünner Fistelstimme im Slang des Negerghettos: «Wir ham ihn so gerufen, auf alle Fälle. Prediger isser gewesen. Reverend Lucius Harper. Sie ham mich nach ihm genannt. Er hatte ’n Laden gemietet: Temple of Zion hat er drangeschrieben … Mein Alter hat immer gesagt, die Sekte, die hat er bloß erfunden, um sich beim Hausbesitzer anzuschmeißen, weil das war ’n Jud, und damit der vielleicht keine Miete nimmt. Aber Rabbi Harper hat behauptet, es is Überzeugung, und das Alte Testament is genug für uns Nigger, da simmer besser mit dran … Was halten Sie davon?»
«Aus meiner Sicht ist das natürlich richtig», sagte der Rabbi.
«Ach ja?» Er sprach wieder normal. «Wie kommt es dann, dass alle Läden in unserem Viertel Juden gehörten, die sich an uns bereicherten?»
«Ich bitte Sie, Lucius …» Professor Richardson war bestürzt.
Das sonst so blasse Gesicht des Rabbis bekam Farbe. Gelassen sagte er: «In meiner Stadt gab es nur einen einzigen jüdischen Händler im Negerviertel. Sein Vater hatte das Geschäft gegründet, lange bevor Ihre Leute in die Gegend zogen. Und reich war er bestimmt nicht. Er konnte den Laden in dieser Nachbarschaft dann nicht mehr verkaufen, und er hatte auch nicht genug Geld, um in einer anderen Gegend ein neues Geschäft aufzumachen … Schließlich ergab sich die Lösung von selbst: Es kam zu Krawallen im Viertel; sein Laden wurde kurz und klein geschlagen und geplündert.»
Der Neger ließ sich nicht einschüchtern. Er sah dem Rabbi starr in die Augen: «Soll ich vielleicht schockiert sein, weil meinen Leuten die Geduld gerissen ist und sie sich etwas von dem zurückgeholt haben, was ihnen ohnehin gehörte? Vierhundert Jahre lang habt ihr uns unterdrückt, geknechtet, versklavt; ihr habt unsere Traditionen zerstört und uns unserer Männlichkeit beraubt …»
Der Rabbi erhob sich; auch Miriam stand auf. «Wir müssen wirklich gehen, Mrs. Richardson.» Und zu dem Negerdichter gewandt: «In den vierhundert Jahren, die Sie erwähnten, Mr. Rathbone, lebte mein Volk in den Ghettos Europas – in Polen, Russland und Deutschland. Mein Großvater, der um die Jahrhundertwende aus einem kleinen russischen Städtchen nach Amerika kam, hatte noch nie im Leben einen Neger gesehen, geschweige denn versklavt, geknechtet und seiner Männlichkeit beraubt.» Miriam stand neben ihrem Mann, der ihren Arm nahm. Er sah dem hellhäutigen Neger gerade in die zornigen Augen: «Können Sie von Ihren Vorfahren das Gleiche behaupten, Mr. Rathbone?»
11
«Ihr
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