Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Titel: Am Sonntag blieb der Rabbi weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
Vom Netzwerk:
Seitenzahl ausrufen würde, wüsste er nicht einmal, welches Gebet dran ist. Er gehört zum ersten Mal in seinem Leben einer Gemeinde an. Er stammt aus einer Familie von Freidenkern, von … von Radikalen! Und seine Frau … sie ist Nichtjüdin!»
    «Mit ihrem Übertritt ist sie Jüdin geworden», erinnerte Paff. «Das ist das Gesetz … Aber diese Sache wollen wir gar nicht aufrühren. Es ist auch so ein Affront der Gemeinde gegenüber, Epstein zu ernennen – und ich sag das nicht, weil er mich ersetzen soll.»
    «Sobald er es verkündet, machen wir Stunk», schlug Arons vor.
    «Nein!», sagte Paff mit Nachdruck. «Ich hab da eine Idee, Leute … Wenn Gorfinkle morgen in der Sitzung die neuen Ausschüsse bekannt gibt, sagen wir kein Wort. Wir mucksen uns nicht.»
    Alle sahen ihn an.
    «Ja – aber was nutzt uns …», begann Edelstein.
    «Verlasst euch auf mich. Ich hab eine Idee … Tut mir Leid, aber ich kann im Moment noch nicht mehr sagen. Hört auf mich. Wir wollen erst mal sehen, was morgen passiert. Wenn ich den Mund halte, schweigt ihr auch – okay?» Er blickte in die Runde. «Hab ich euch jemals im Stich gelassen?»
12
    «Aber warum ausgerechnet die Ritualkommission?», fragte Roger Epstein, als die Frauen in der Küche verschwunden waren.
    Die Gorfinkles besuchten die Epsteins mindestens einmal in der Woche, meistens am Samstagabend. Sie waren eng befreundet. Man ging zusammen ins Kino, spielte Bridge oder plauderte auch nur, wie an diesem Samstagabend.
    «Warum nicht?», gab Ben Gorfinkle zurück.
    «Na, du weißt doch, aus welchem Milieu ich stamme … Was passiert, wenn der Rabbi Einspruch erhebt?»
    «Kann er nicht.» Gorfinkle grinste. «Er ist morgen gar nicht da.»
    Epstein war ein kleiner, gedrungener Mann. Sein Schädel war kahl bis auf eine einzige Haarsträhne, an der er immer herumzupfte, wenn er aufgeregt war. Jetzt zupfte er daran. «Na und? Dann schlägt er Krach, sobald er zurück ist. Und zu Recht.»
    «O nein», widersprach Gorfinkle. «Die Ernennung von Kommissionen und Kommissionspräsidenten ist die Aufgabe des Vorstehers. Eine rein administrative Angelegenheit.»
    «Aber hier geht es um die Ritualkommission, und die ist für die Gebetsordnung zuständig. Ich finde, das geht auch den Rabbi was an. Außerdem, was weiß ich schon über Ritualfragen? Na, und dann – vergiss nicht, dass Samantha …»
    «Ach, geh, Roger – Unsinn! Was hat denn deine Frau damit zu tun? Und besondere Kenntnisse brauchst du auch nicht. Glaubst du etwa, Paff wusste über Ritualfragen Bescheid, ehe er das Amt übernahm? Dafür ist der Rabbi da … Wie ich es sehe, hat die Ritualkommission etwa die gleiche Funktion gegenüber der Gemeinde wie etwa die Schulkommission gegenüber den Bürgern. Man muss nicht Pädagoge sein, um in der Schulkommission zu sitzen. Wozu gibt es Schulräte, Direktoren und Lehrer? In Kommissionen braucht man Leute mit gesundem Menschenverstand, die um das allgemeine Wohl besorgt sind … Und so ist es auch mit der Ritualkommission. Es gibt eine bestimmte Gebetsreihenfolge, die im Gebetbuch festgelegt ist. Für besondere Fragen haben wir den Rabbi. Und für alles andere bist du die richtige Person.»
    Epstein war immer noch nicht überzeugt. «Aber warum gerade ich?»
    «Nun, die Ritualkommission verteilt die Ehrenämter bei den Gottesdiensten, vor allem an den Feiertagen. Das ist eine sehr wichtige Aufgabe, und da brauche ich jemand, auf den ich mich verlassen kann. Dazu bist du Künstler …»
    «Graphiker», bemerkte Epstein mit einer abschätzigen Handbewegung.
    «Künstler!», beharrte Gorfinkle. «Der Gottesdienst muss auch dem Auge etwas bieten, und da ist ein Künstler eben der richtige Mann.»
    «Also …»
    «Der Kaffee kommt gleich!», rief Samantha aus der Küche. Sie erschien in der Tür. «Wie wär’s mit englischem Teegebäck?»
    Sie war ein gutes Stück größer als ihr Mann. Mit ihrem blonden Haar, den blauen Augen und breiten Backenknochen sah sie aus wie eine Wikingerin.
    «Für mich nur Kaffee, Sam», sagte ihr Mann. «Zu viel Kalorien.»
    «Sei doch nicht so, Liebling. Heute Abend darfst du. Du warst doch die ganze Woche brav.»
    «Also gut – aber du bist schuld!»
    «Du nimmst doch auch Gebäck, Ben?»
    «Und ob.»
    «Machst du Kaffee, Mammi?», rief ihre Tochter Didi von oben herunter. Einen Augenblick später kam sie ins Zimmer gestürmt: ein schlankes, elfenhaftes Geschöpf; das Haar trug sie in der Mitte gescheitelt und in zwei Zöpfen geflochten. Sie

Weitere Kostenlose Bücher