Am Sonntag blieb der Rabbi weg
Lebensstil nicht plötzlich ändern. Man kauft sich einen größeren Wagen, man lässt sich ein paar Maßanzüge schneidern … Aber was ist das schon, wenn einer wirklich viel Geld hat? Gar nichts ist das! Was tut man also? Man kauft eine Villa und lässt sie von einem Innenarchitekten einrichten; man kauft teure Bilder – nicht etwa, weil man plötzlich Sinn für Kunst entwickelt hätte – o nein; man will den andern nur beweisen, dass man erfolgreich ist: Mit ihrem Respekt – oder auch mit ihrem Neid – wächst dann das Selbstbewusstsein … Die einen protzen mit Besitz, die andern lassen sich mit eleganten Frauen sehen – und der Typ Meyer Paff spendet Geld für wohltätige Zwecke.»
«Und Sie?», fragte der Rabbi.
Wenn der andere Sie herausfordert, so zögern Sie nicht, eigene Unzulänglichkeiten zuzugeben. Es verbessert die Atmosphäre.
Gorfinkle zog die Achseln hoch. «Zugegeben, ich bin auch nicht viel anders.» Er grinste: «Sie können sogar sagen, ich bin ein klassisches Beispiel … Ich habe mich an der TH auf Elektronik spezialisiert. Als ich mein Studium abschloss, war das Gebiet noch relativ neu. Ich war einer der besten Studenten meines Kurses und dachte, mit dreißig bist du Chef irgendeines großen Unternehmens … Dann kam der Krieg; ich wurde eingezogen und verlor wertvolle Jahre. Na ja, das ging mir nicht allein so. Aber später merkte ich dann, dass es bei den Beförderungen nicht immer auf die beruflichen Fähigkeiten ankommt. Und obendrein war ich Jude – es gibt Dinge, die einer Karriere förderlicher sind. Hinzu kam noch, dass mittlerweile so ungefähr jeder Zweite in meinem Fach den Doktor macht … Lauter studierte Nichtskönner, aber die sind gefragt. Andererseits, wenn man Frau und Kind hat, kann man nicht nochmal eben ein paar Semester einschieben. Was tut man also? Man wechselt die Stelle in der Hoffnung, vielleicht klappt’s woanders – was natürlich Quatsch ist. In dieser Branche muss man mit dreißig oben sein, oder man schafft’s nicht mehr … Mit meinen fünfundvierzig Jahren bin ich jetzt Abteilungsleiter, und sehr viel weiter werde ich’s bis zur Pensionierung wohl nicht bringen …» Er zuckte die Achseln. «Als ich anfing, mich um die Synagogenarbeit zu kümmern, da tat ich es, weil ich glaubte, ich könnte es besser machen als andere – ehrlich! Und bis zu einem gewissen Grad gilt das auch heute noch. Aber im Großen und Ganzen …» Wieder das Achselzucken: «Ich geb’s zu; ich bin wie die andern. Ich möchte einfach eine Rolle spielen, Einfluss haben, jemand sein.»
«Sie geben sich da sehr zynisch», warf der Rabbi ein. «Übersehen Sie dabei nicht etwas ganz Wesentliches? Das soll ja Zynikern manchmal passieren … Sie behaupten, dass die einen mit Luxusvillen protzen und die andern mit Geldspenden; das sei der einzige Unterschied, sagen Sie. Schön – wir leben im Zeitalter der Psychologie; wir bilden uns ein, die Beweggründe für unsere Handlungen zu durchschauen … Tun wir das aber wirklich? Und selbst wenn – ich finde, letzten Endes kann man solche Dinge nur vom Resultat her beurteilen. Und da ist mir ein Mann, der mit Wohltätigkeit protzt, lieber als ein anderer, der nur eben protzt … Sie haben eine sehr zynische Einstellung zur Synagoge, Mr. Gorfinkle. Aber wissen Sie, Zynismus ist nichts anderes als enttäuschter Idealismus. Wir Juden betrachten uns als ein Volk von Priestern. Um unserem Ideal treu zu bleiben, dürften wir eigentlich nichts tun als philosophieren und beten … Es ist auch versucht worden, früher, in den polnischen und russischen Ghettos. Aber jemand musste wohl oder übel arbeiten, und das waren dann notgedrungen die Frauen. Ich muss sagen, diese Einstellung liegt mir nicht. Ich finde überhaupt, man bewältigt das Leben nicht, indem man ihm ausweicht. Unsere Religion ist eine praktische Religion; Parnassah , Lebensunterhalt ist für uns so wichtig wie beten, und die Welt, in der wir leben, ist so wichtig wie die Synagoge.»
Sagt er etwas, das sich einigermaßen mit Ihrem Standpunkt vereinen lässt, so lassen Sie ihn das wissen – notfalls, indem Sie seine Worte etwas zurechtbiegen. Sie ermöglichen ihm damit unter Umständen einen ehrenvollen Rückzug ohne Gesichtsverlust.
«Wenn Sie so denken», warf Gorfinkle rasch ein, «warum kritisieren Sie dann eigentlich unser Programm, Rabbi? Wir wollen den Leuten ja gerade klar machen, dass die Synagoge nicht im luftleeren Raum existieren kann, dass sie in dieser Welt
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