Am Sonntag stirbt Alison
sich von ein paar Typen mit Gewehren in Schach halten lassen konnten. Die hätten sich doch wehren können, sie waren doch in der Überzahl, und die anderen hätten sie ja wohl kaum alle auf einmal erschießen können.«
»Sag mal, wovon bitte redest du überhaupt?«, fragte Sibel genervt.
»Benni war nur einer und wir waren siebenundzwanzig. Und trotzdem hat keiner etwas gemacht.«
»Weißt du, wie man so etwas nennt?«, fragte Sibel giftig. »Überlebensschuld! Das solltest du mal googeln!«
»Ich muss jetzt zu Lys«, sagte Sebastian und schaltete das Handy ab.
***
Vorsichtig hob Lys den Kopf und spähte über die brusthohe Barriere aus Gestrüpp, hinter die sie sich gekauert hatte. Stille herrschte ringsumher, und Finsternis. Finsternis, die von zwei hellen Vierecken durchbrochen wurde, keine zehn Meter von ihr entfernt.
Eine Hütte, mitten im Wald, in der Licht brannte.
Ein Atmen direkt neben ihrem linken Ohr ließ sie zusammenzucken. »Ich bin’s nur.« In dem Flüstern erkannte sie Sebastians Stimme. Ihr rasender Herzschlag beruhigte sich wieder etwas. »Wo ist der Motorroller?«, wisperte sie.
»Ich hab ihn da drüben hinter einen Busch geschoben.«
»Gut. Sehr gut.«
»Und jetzt?« Da war es wieder, das Zittern in Sebastians Worten, kaum hörbar, aber sie kannte ihn einfach zu gut. Ein Leben lang, wenn sie richtig überlegte. Hatte Mama nicht immer behauptet, dass sie sogar in derselben Krabbelgruppe gewesen waren? Jetzt, all die Jahre später, hockten sie zusammen in der Dunkelheit hinter einem kahlen Busch und starrten zu einer Hütte hinüber, in der sich höchstwahrscheinlich ein bewaffneter Schwerverbrecher aufhielt. Und Alison. Lys wusste, woran Sebastian in diesem Moment dachte. Auch sie dachte daran und versuchte energisch, die Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Konzentrier dich! Jetzt kommt es drauf an.
»Ich gehe rüber«, flüsterte Lys.
Sebastian ergriff ihren Arm, als sie losschleichen wollte. »Warte. Das ist doch zu gefährlich. Ich meine, lass uns auf die Polizei warten!«
»Und was ist, wenn die Polizei nicht rechtzeitig kommt?« Lys warf einen Blick auf ihr Handy, drückte auf einen Knopf, sodass sich die Beleuchtung des Displays einschaltete. »Es ist nach zehn Uhr«, sagte sie.
»Und?«
»In zwei Stunden ist Sonntag. Und sie haben geschrieben, am Sonntag stirbt Alison.«
»Also erstens wissen wir gar nicht, ob es wirklich die Entführer waren, die das geschrieben haben. Und selbst wenn – Mann, das heißt doch nicht, dass sie Alison genau um Punkt null Uhr erschießen!«, erwiderte Sebastian.
»Vielleicht nicht. Vielleicht doch.« Lys zog ihren Arm aus Sebastians Griff. »Bleib hier und behalte die Straße im Auge. Falls noch irgendwelche Komplizen von dem Kerl auftauchen.« Sie begann, sich einen Weg durch das Gestrüpp zu bahnen, Zweige krachten unter ihren Füßen. In der Stille klang das Geräusch unerträglich laut. Lys zuckte jedes Mal aufs Neue zusammen. Ihre Hände waren schweißnass. Dann war sie endlich auf der Lichtung angelangt, verdorrtes Gras raschelte unter ihren Füßen. Sie hielt inne, lauschte. Aus der Hütte drang kein Laut. Scheinbar friedlich fiel der Lichtschein durch die Fenster.
Langsam, behutsam, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie drückte sich seitlich an die Hauswand, neben das vordere Fenster, sodass der Lichtschein sie nicht erfasste. Dann spähte sie vorsichtig nach drinnen, vorbei an verblichenen Rüschchengardinen in einen kleinen, engen Raum. Die einzigen Einrichtungsgegenstände waren ein mottenzerfressenes Sofa und ein niedriger Tisch, auf dem einige Bierdosen standen. Auf dem Sofa saß der Mann, den sie im Olympiaviertel gesehen hatte, und machte gerade mit zitternden Händen eine weitere Bierdose auf. Er war ziemlich blass um die Nase. Rechts von ihm war die Eingangstür zu sehen, zur Linken führte eine zweite Tür weiter ins Innere der Hütte. Geduckt schlich Lys an der Wand entlang, bis sie das zweite Fenster erreichte.
Ein weiterer Raum, ähnlich winzig wie der erste. Links eine Küchenzeile mit einem Spülbecken und einer einzelnen Herdplatte. In der Ecke eine Matratze mit einem Schlafsack darauf. In der Mitte des Raums ein Tisch mit vier Plastikstühlen. Und auf einem der Plastikstühle ein Mädchen, das in diesem Moment den Kopf hob und zum Fenster sah.
Es war Alison.
Auch wenn Lys mit diesem oder einem ähnlichen Anblick gerechnet hatte, war sie in diesem Moment so überrascht, als hätte sie einen Geist
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