Am Sonntag stirbt Alison
war. Der Motorroller holperte vorwärts wie ein bockendes Pferd bei einem Rodeo. Lys klammerte sich an Sebastian fest. In ihrer linken Schulter spürte sie ein seltsames, taubes Pochen. Ein zweiter Lichtstrahl fraß sich neben ihnen in die Dunkelheit und erfasste die Bäume. Lys sah kurz zurück, entdeckte das Scheinwerferpaar, das ein gutes Stück hinter ihnen durch den Wald geisterte. »Er kommt, fahr schneller!«, schrie sie.
»Da ist die Straße!«, stieß Sebastian hervor, seine Stimme klang sonderbar gepresst. Jetzt war Asphalt unter den Rädern. Sebastian bog nach rechts ab und beschleunigte. Der Motorroller schoss die Straße hinunter. Ein Stück voraus waren die Lichter des Dorfes zu erkennen. Ein Kilometer noch, höchstens.
Zwischen den Bäumen tauchten die Scheinwerfer des Autos auf, wandten sich ebenfalls nach rechts.
Straßenlampen näherten sich und erleuchtete Fenster. Ein Ortsschild, das an ihnen vorbeischoss, eine Geschwindigkeitsbegrenzung mit der Aufschrift »30«, ein handbemaltes Schild, das darauf hinwies, dass man Rücksicht auf Kinder nehmen sollte. Auf der rechten Straßenseite ein Wirtshaus Zum goldenen Adler . Der namensgebende Greifvogel baumelte in angelaufenem Messing an einer Metallstange, schwach beleuchtet vom Licht, das durch die Butzenglasscheiben fiel. Der Motorroller schlitterte vor die drei Treppenstufen, die zum Eingang emporführten, und kippte zur Seite. Sebastian und Lys schleppten sich die Stufen hinauf und stießen mühsam die Tür auf.
Der Schankraum sah aus wie die Kulisse zum Musikantenstadel. In der einen Ecke saß eine Gruppe älterer Herren, die alle Lederhosen trugen. Jeder hatte einen Krug mit Bier vor sich stehen. Eine ältere, gut genährte Wirtsfrau kam auf Lys und Sebastian zu. »Wia alt seid’s ihr?«, fragte sie skeptisch. »Wann’s ihr koane 18 seid, dann kriegt’s ihr jetzt nix mehr.« Dann sprang sie geistesgegenwärtig nach vorne und fing Sebastian auf, der in diesem Moment ohnmächtig zusammensackte.
Sonntag
An die nächsten Stunden hatte Lys später nur noch bruchstückhafte Erinnerungen.
Sie erinnerte sich an eine gepolsterte Bank, auf der sie lag, umlagert von lauter besorgt dreinblickenden älteren Herren in Lederhosen, von denen einer vorschlug, »dem Madel« ein Glas Wasser zu bringen, woraufhin ein anderer meinte, das sei nichts »wegen der Narkose«, und ihr stattdessen einen Packen frische Servietten auf die Schulter drückte.
Dann waren da etliche Polizisten und ein Sanitäter, der ihr eine Nadel in den Arm stach und ihr einen Verband anlegte. Alle stellten Fragen, endlose Fragen, was eigentlich geschehen sei und wer auf sie geschossen habe. »Alison«, hatte Lys mit seltsam tauben Lippen immer wieder gemurmelt. »Sie ist… da oben im Wald, in einer Hütte.«
»Alison? Wer ist Alison?«, hatten die verwirrten Polizisten gefragt.
Dann war sie langsam wieder klarer geworden und hatte etwas geordneter berichten können. Von Alison. Die Stammtischrunde war danach drauf und dran gewesen, zu der Hütte zu stürmen und sich den Kerl vorzuknöpfen, der es wagte, in ihrem Wald eine entführte Frau zu verstecken. »Nix da«, hatte ein Polizist gebrüllt, »ihr bleibt’s hier, wir machen das!«
Danach hatte ein Krankenwagen sie schwankend durch die Nacht gefahren. Die Lichter einer großen Stadt waren als breite Lichtstreifen durch den Wagen gezogen und hatten wieder und wieder die Gesichter der beiden Sanitäter erhellt, die sich über das Bundesligaspiel Bayern München gegen Nürnberg unterhielten. Wie geht’s Sebastian, hatte sie fragen wollen, aber ihre Lippen ließen sich nicht mehr bewegen.
In einem grell erleuchteten Raum hatte ein junger Arzt aufgeregt mit einem rot-weißen Zettel vor ihrer Nase herumgewedelt und etwas von Operationsrisiken erzählt. Währenddessen hatte ein älterer Arzt mit einem unbeeindruckten Gesichtsausdruck die Szene beobachtet und war dann mit den Worten »Keine Sorge, Kleine, das machen wir schon« zu einer Krankenschwester hinübergeschlendert, mit der er sich dann ebenfalls über das Bundesligaspiel Bayern München gegen Nürnberg unterhielt. »Haben Sie noch Fragen?«, wollte der junge Arzt wissen. Lys hätte viele Fragen gehabt, aber sie hatte irgendwie vergessen, wie das ging. Sprechen. Und so krakelte sie nur ihre Unterschrift auf den Zettel.
Und dann endeten die Erinnerungen.
Sie setzten erst wieder ein, als Lys in einem beige getünchten Zimmer erwachte. Sie lag in einem weiß bezogenen Bett
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