Am Sonntag stirbt Alison
das Licht angelassen hatte und gegangen war. Und hoffentlich schnell wieder abziehen.
Es klingelte erneut. Er räumte den Staubsauger und den Wischmopp zurück, holte die Plastiktüte und ging zur Tür. Seine Hand lag bereits auf der Klinke, als von außen geklopft wurde.
Der Mann hielt den Atem an. Wieder klopfte es. »Frau Saier?« Eine Mädchenstimme. »Frau Saier, sind Sie zu Hause?«
Er trat einen Schritt zurück, leise. Verflucht, wer immer das war, er schien nicht so leicht aufgeben zu wollen.
Ein Hund bellte. »Frau Saier?« Das war jetzt eine Männerstimme. »Alison? Bist du das, Alison?«
Der Mann huschte zum Fenster hinüber, öffnete es und blickte auf die kümmerlichen Sträucher hinunter, die die Hausverwaltung vor der Wand gepflanzt hatte. Ein einsamer Spaziergänger lief den Weg hinunter, der vom Haus wegführte, er wandte ihm den Rücken zu. Sonst war keine Menschenseele zu sehen.
»Alison!«, rief es hinter ihm. »Alison, bist du dadrinnen?« Kurz entschlossen schwang er sich zum Fenster hinaus und kämpfte sich durch das Gestrüpp auf den Weg vor.
»He!« Ein Schrei von der Eingangstür des Hauses. Eine Gestalt kam aus dem Windfang gesprungen. Im selben Moment schrie sie durch die offene Haustür in den Gang hinein: »Schnell! Kommt her! Da ist gerade einer aus dem Fenster geklettert!« Dann kam sie auf ihn zugerannt. Ein Mädchen, dachte er verwirrt, sechzehn, siebzehn Jahre alt, dunkelblonde, schulterlange Haare, die ihr wild um den Kopf flatterten. Was bitte will die von mir?
Er hielt sich nicht mit Fragen auf. Mit einem Satz erreichte er den Plattenweg und begann zu rennen.
Hinter ihm klatschten Füße auf die Steine. Das Mädchen rannte ihm nach.
Er wandte sich nach links, sprang eine Treppe hinunter, jagte einen dunklen Weg entlang. Weiter vorne zogen die Scheinwerfer vorüberfahrender Autos vorbei. Er merkte, wie er ins Keuchen kam, er war eben doch nicht mehr der Jüngste und sein Hausarzt hatte vermutlich recht damit, dass seine Lunge nach dreißig Jahren Zigarettenkonsum wie ein Sack Teer aussah. Japsend stolperte er eine weitere Treppe hinunter und hinüber zu dem alten weißen Ford, der dort am Straßenrand parkte. Seine Hände zitterten so sehr, dass er Mühe hatte, die Tür aufzuschließen. Er warf die Tüte auf den Beifahrersitz und sprang nach drinnen. Mit lautem Knattern und Stottern sprang der Motor an. Blödes altes Ding. Falls das Geld, das ihm diese Geschichte hoffentlich einbrachte, dafür ausreichte, war ein neuer Wagen fällig. Ein neuer Wagen war vielleicht sowieso wichtiger als die Miete. Der Typ, dem das Haus gehörte, war schließlich reich genug, den konnte man auch noch ein oder zwei Monate später bezahlen.
Er gab Gas und der Wagen schoss auf die Straße hinaus und ließ die Lichter des Olympischen Dorfs hinter sich zurück.
***
»Sebastian!« Lys stand mitten auf der Straße, umbraust von wütend hupenden Autos, drehte sich im Kreis herum und brüllte in ihr Handy. »Sebastian!«, schrie sie. »Geh ran! Wo bist du?«
Keine Antwort. Die Autos hupten, jemand zeigte ihr einen Vogel, eine Frau keifte zum Fenster heraus: »Ich ruf’ die Polizei!« Am Straßenrand standen Sibel, Leo und Julia Sommer, ruderten wie wild mit den Armen und gaben ihr Handzeichen, während Özil wild kläffte. »Komm da weg!«, schrie Leo. »Du wirst noch überfahren!«
»Sebastian, geh verdammt noch mal an dein Handy!«, schrie Lys gegen den Lärm der Autos an.
Sibel stieß einen türkischen Fluch aus, der ihre Oma vermutlich hätte in Ohnmacht fallen lassen, und rannte durch eine Lücke im Verkehr zu Lys hinüber. »Komm jetzt mit!«, schrie sie und schleifte Lys quer über die Fahrbahn, wobei sie bitterböse Blicke in Richtung der heranbrausenden Autos schickte. Ein Laster hupte dröhnend, der Fahrer gestikulierte wild hinter der Windschutzscheibe. Lys schien nichts von alldem zu bemerken, noch immer brüllte sie auf ihr Handy ein. »Verflucht!«, schrie sie. »Wieso geht der nicht ran?«
»Vielleicht hört er sein Handy nicht? Verkehrslärm und so?«, mutmaßte Sibel.
»Verdammt, Sibel, der Kerl da eben, der muss etwas mit Alisons Entführung zu tun haben! Wir müssen ihm unbedingt nachfahren.« Sie starrte mit verzweifeltem Blick zu der Ampel ein paar Hundert Meter weiter, hinter der sich eine lange Schlange gebildet hatte. Das fünfte Auto in der Schlange war der weiße Ford.
»Hör mal, du weißt doch auch gar nicht, wer dieser Typ ist«, meinte Sibel. »Vielleicht ist
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