Am Sonntag stirbt Alison
begann Lys.
Die Polizistin war rot geworden. »Ich werde untersuchen lassen, wie es zu dieser Panne kommen konnte«, sagte sie förmlich. »Aber jetzt schilder mir bitte noch mal genau, was passiert ist.«
Also erzählte Lys der Kommissarin in allen Einzelheiten, wie sie den Mann in der Wohnung überrascht hatten, wie sie ihn bis zu der Hütte im Wald verfolgt hatten und was dort geschehen war. Danach musste sie ihr noch einmal genau erklären, wie sie überhaupt auf Alisons Spur gestoßen war. »Gut«, sagte die Kommissarin, als sie schließlich geendet hatte. »Es kann sein, dass wir uns noch mal bei euch melden werden, ihr dürft aber gerne nach Hause gehen, wir haben ja eure Adresse. Jetzt werden wir erst einmal Kontakt mit der Polizei in Bonn aufnehmen, damit man die Familie des entführten Mädchens verständigen kann.«
»Das haben Sie noch nicht gemacht?«, fragte Lys entsetzt.
»Die junge Frau hat sich bisher geweigert, mit uns zu sprechen. Nicht mal ihren Namen hat sie uns gesagt«, meinte die Kommissarin. »Wie gesagt, sie hat einen schweren Schock erlitten. Wir hatten bis jetzt keine Ahnung, wer sie ist.«
»Na, dann wird’s jetzt aber Zeit«, sagte Sibel trocken und Lys hörte, wie sie leise »Schnarchnasen!« murmelte.
Der Rest des Tages verging wie im Flug. Ständig tauchte irgendjemand im Zimmer auf: Krankenschwestern, die Essen und Getränke vorbeibrachten und sich nach Lys’ Befinden erkundigten; Sebastian, der zur Tür hereingeschlurft kam, den linken Arm in Gips, das Gesicht schmerzverzerrt, und sich sofort erschöpft auf den nächsten Stuhl fallen ließ; Julia Sommer, die Lys förmlich zu ihrem Erfolg beglückwünschte; Leo Lambert, der Lys beinahe um den Hals fiel, weil er so glücklich darüber war, dass sie Alison gerettet hatte (vermutlich wäre er ihr um den Hals gefallen, wenn er nicht Rücksicht auf ihre verletzte Schulter hätte nehmen müssen).
Später am Tag kam eine Ärztin vorbei, die Lys Wunde kontrollierte. Als Lys danach fragte, wann sie entlassen würde, meinte die Ärztin, wann immer sie wolle. Dann erzählte sie von ihrem Auslandsjahr in Südafrika, wo man nicht so ein Theater um eine harmlose Schussverletzung machte. »Da bekommt man einen Verband verpasst, eine Wundstarrkrampfspritze und eine Packung Antibiotika und wird nach Hause geschickt«, erklärte sie lässig.
Am Abend kam dann plötzlich Herr McKinley zur Tür hereingestürmt. Er war offenbar gerade aus Bonn gekommen und hatte kurz zuvor seine Tochter seit drei Jahren zum ersten Mal wieder gesehen. Wie schon Leo zuvor bedankte er sich hundertfach für Lys’ Einsatz und entschuldigte sich genauso oft für sein unfreundliches Verhalten bei ihrem Besuch in Bonn. Alison befand sich offenbar nur zwei Stockwerke tiefer in derselben Klinik. »Es geht ihr körperlich gut, aber sie ist ziemlich verstört«, meinte er. »Mein Gott, ich kann es noch gar nicht fassen! Als die Polizei mir heute Mittag sagte, dass Alison all die Jahre in München gelebt hat…« Er schwieg einen Moment, dann sagte er: »Ich erkenne sie kaum wieder.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Julia Sommer irritiert.
»Ich weiß nicht…« McKinley hob die Schultern. »Sie ist natürlich älter geworden, aber vor allem… hat sie sich so verändert. Insgesamt. Wie sie sich bewegt, wie sie spricht… Ich weiß, sie ist traumatisiert nach all dem, was ihr widerfahren ist, und in drei Jahren kann sich ein junger Mensch sicher sehr stark verändern, aber trotzdem – ich muss mir immer wieder sagen, dass sie wirklich Alison ist, so fremd erscheint sie mir.« Seine Augen huschten an den weiß getünchten Wänden des Raumes entlang. »Bei diesen ganzen Gedanken habe ich so ein schlechtes Gewissen«, murmelte er. »Ich meine, was ist das für ein Vater, der seine eigene Tochter nicht mehr erkennt, nur weil sie ein paar Jahre von ihm getrennt war? Müsste ich mich ihr nicht gerade jetzt nahe fühlen, nach alldem? Maria Corazón hätte anders empfunden, da bin ich sicher.«
»Muss sie denn noch lange in der Klinik bleiben?«, lenkte Lys ab, der es ganz schön peinlich war, dass McKinley ihnen derart ihr Herz ausschüttete.
»Die Ärzte würden sie gerne noch eine Weile hierbehalten, aber ich denke, dass sie sich in einer vertrauten Umgebung schneller erholt. Ich werde morgen mit ihr nach Hause fahren. Die Polizei ist einverstanden.« Alisons Vater zwang sich zu einem Lächeln. »Und du? Wie lange musst du noch hierbleiben?«
»Wir gehen morgen – falls
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