Amber Rain
erwartet? Ich weiß es nicht mehr. Ich habe es vergessen in dem Moment, als der Blick aus ihren silberfarb e nen Augen mich getroffen hat. Der Kuss? Ich muss lächeln. Nein, ganz gleich, womit ich gerechnet habe, aber damit ganz sicher nicht. Nicht damit, dass sie mich so überfällt. Und ganz bestimmt nicht damit, dass es so gut sein würde, dass ich es kaum schaffe, mich zu lösen.
Eine fast knisternde Aura umgibt ihren Körper, während sie neben mir her geht. Ich wähle nicht den Weg durch die Mitte des Raumes, ich will sie nicht verunsichern. Sie sieht eben so viel vom Rand her, hier, hinter den Blumenkästen, auf dem Weg über polierte Fliesen aus schwarzem Glas, über die das Licht von in Bodennähe angebrachten blauschimmernden H a logenleuchten streichelt. Niemand beachtet uns, höchstens der eine oder andere kurze Blick fällt in unsere Richtung, mehr nicht. Natürlich wird Amber wahrgenommen, aber jeder hier in diesem Raum war irgendwann in seinem Leben in genau de r selben Situation wie sie jetzt. Niemand wertet, niemand taxiert.
Der Raum, den ich für diesen Abend reserviert habe, liegt im Obergeschoss. Der Saal ist nach oben zum Dach hin offen, und in Form einer Balustrade ziehen sich die beiden Gänge zu den Séparées in einem weiten Kreis auf halber Höhe um den Saal. Die Treppengeländer sind mit Blumen umrankt. Noch mehr tropische Gewächse verbergen die Lautsprecher, aus d e nen leise die Musik tropft, ruhige und starke Rhythmen, die das Blut anheizen. Überall schimmern Scheinwerfer durch das Blattwerk. Club 27 ist eine Adresse, die schon im Aufbau b e findlich war, als ich mich der Szene zuwandte. Hier ist alles ganz organisch zusammengewachsen, das Dekor ebenso wie d ie Klientel.
Ich achte darauf, Amber auf jeden einzelnen Notausgang hinzuweisen. Drei im Erdgeschoss, an denen wir vorbeigehen, deutlich gekennzeichnet durch Leuchtanzeigen für Fluchtwege. Keiner davon ist verschlossen, sie führen in einen separaten Gang, der wiederum vorn in das Foyer mündet, und der Tü r steher hält in diesem Etablissement niemanden auf. Es ist zu leicht, in Panik zu geraten, und es passiert immer wieder, vor allem bei jenen, die die Neugier hierher treibt und die sich ve r schätzen mit dem, was sie erwartet. Es ist beinahe paradox, dass Amber Rain genau deshalb hier ist, um ihre Panik losz u werden.
Ich streiche sacht über ihren Rücken und lenke ihren Blick auf die schmale Nottreppe, die von der Balustrade wieder nach unten führt. Sie fährt sich mit der Zunge über die Lippen, sieht mich an und nickt ernst. Mein Herz zieht sich zusammen. Ich bewundere ihren Mut. Und ich bin dankbar dafür, dass sie in der Lage zu sein scheint, mir absolut zu vertrauen. Ich glaube nicht daran, dass sie es jetzt schon tut, aber ich werde dafür arbeiten, dass sie eines Tages in der Lage sein wird, sich ganz in meine Hände zu geben.
Ich schiebe mich vor sie, als wir die angelehnte Tür zu dem von mir reservierten Raum erreichen. Ich lege die Fingerspi t zen meiner rechten Hand an ihre Wange und drehe ihr Gesicht zu mir. „Amber?“
Ihre Augen sind ernst und erwartungsvoll.
„Ich werde diese Tür hinter uns zuziehen. Ich möchte, dass du dich ganz auf mich konzentrierst, wenn wir in diesem Raum sind. Niemand, der an dieser Tür vorbeigeht, wird uns hören, wird die Fragen hören, die ich von dir erwarte, oder die An t worten, die ich dir gebe. Aber diese Tür wird nicht verschlo s sen sein, sodass du diesen Raum verlassen kannst, wann immer du willst. Hast du verstanden?“
Sie nickt wortlos, und ich kämpfe gegen ein Lächeln an. Mein Daumen streicht über ihre Unterlippe. „Wenn ich dir eine Fr a ge stelle, erwarte ich von dir eine verbale Antwort. Kopfze i chen genügen ab hier nicht mehr. Es ist wichtig, dass du das frühzeitig lernst. Irgendwann wirst du nicht mehr in der Lage sein, mir Kopfzeichen zu geben, und dann ist verbale Ko m munikation das einzige Mittel der Verständigung zwischen uns.“ An der Pulsader unter ihrem Ohr kann ich erkennen, wie ihr Blut bei dieser kleinen Ansprache schneller zu zirkulieren beginnt. Hitze schießt in ihre Wangen. Aber sie zuckt nicht zurück.
„Nun?“, fordere ich sie auf. „Ich stelle dir die Frage noch einmal. Hast du verstanden?“
„Ja, Sir“, sagt sie, und ich gehe fast in die Knie dabei.
„Sehr gut. Gib mir die Maske, die in dem Päckchen war.“
Eilig gräbt sie in ihrer kleinen, strassbesetzten Handtasche nach der Augenmaske. Ich weiß, dass sie
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