Amber-Zyklus 06 - Die Trümpfe des jungsten Gerichts
gefiel mir der Gedanke. Es störte mich, daß er in meinen Geistrad-Papieren herumgeschnüffelt hatte. Außerdem schuldete er mir eine verdammt gute Erklärung für sein Benehmen auf dem Berg.
Ich zog mich aus, duschte, legte mich ins Bett und löschte das Licht. Ich hätte ihm auch eine Nachricht hinterlassen, doch ich lieferte nicht gern Beweisstücke, und ich hatte ein deutliches Gefühl, daß er nicht zurückkehren würde.
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Er war ein gedrungener, kräftig gebauter Mann mit einer ziemlich blühenden Gesichtsfarbe; sein dunkles Haar war von weißen Streifen durchzogen und vielleicht oben herum ein wenig dünn. Ich saß im Arbeitszimmer seines halbländlichen Hauses in der Provinz des Staates New York, trank ein Bier und berichtete ihm von meinen Schwierigkeiten. Draußen vor dem Fenster herrschte eine windige, sternengesprenkelte Nacht, und er war ein guter Zuhörer.
»Sie sagten, daß Luke am nächsten Tag nicht auftauchte«, sagte er. »Ließ er Ihnen eine Nachricht zukommen?«
»Nein.«
»Was genau haben Sie an jenem Tag gemacht?«
»Am Morgen inspizierte ich sein Zimmer. Es war alles noch so, wie ich es verlassen hatte. Ich ging zur Rezeption. Nichts, wie ich bereits sagte. Dann nahm ich ein Frühstück ein und versuchte es noch einmal. Auch diesmal nichts. Also unternahm ich einen ausgedehnten Spaziergang durch die Stadt. Kurz nach Mittag kehrte ich zurück, aß etwas und sah noch einmal in seinem Zimmer nach. Wieder dasselbe. Daraufhin borgte ich mir den Wagenschlüssel und fuhr zu der Stelle hinauf, wo wir die Nacht zuvor gewesen waren. Dort gab es keine Anzeichen von irgend etwas Ungewöhnlichem, bei Tage betrachtet. Ich stieg sogar zu Fuß den Hang hinunter und erforschte die Gegend. Niemand, keine Hinweise. Ich fuhr zurück, legte den Schlüssel wieder an seinen Platz, vertrieb mir die Zeit bis zum Abendessen im Hotel, aß etwas, dann rief ich Sie an. Nachdem Sie mich aufgefordert hatten, zu Ihnen zu kommen, reservierte ich einen Platz in der nächsten Maschine und ging früh zu Bett. Heute morgen nahm ich den Shuttlebus und flog von Albuquerque hierher.«
»Haben Sie heute morgen noch einmal nachgesehen?«
»Ja. Nichts Neues.«
Er schüttelte den Kopf und zündete seine Pfeife wieder an.
Sein Name war Bill Roth, und er war sowohl ein Freund meines Vaters als auch sein Rechtsanwalt gewesen, damals, als er in dieser Gegend gewohnt hatte. Er war möglicherweise der einzige Mann auf der Erde, dem Dad vertraut hatte, und auch ich vertraute ihm. Ich hatte ihn während meiner acht Jahre mehrmals besucht - das letzte Mal vor anderthalb Jahren, unseligerweise genau zu der Zeit, als seine Frau Alice beerdigt wurde. Ich hatte ihm die Geschichte meines Vaters erzählt, so wie ich sie aus dessen eigenem Mund erfahren hatte, außerhalb der Burgen des Chaos, denn ich hatte den Eindruck gewonnen, daß seinem Wunsch entsprechend Bill wissen sollte, was vorgefallen war, und ich hatte das Gefühl, daß er ihm für die Hilfe, die er ihm gewährt hatte, eine Art Erklärung schuldete. Und Bill verstand allem Anschein nach und glaubte es. Aber schließlich hatte er Dad auch viel besser gekannt als ich.
»Ich habe mich vorhin bereits über die bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen Ihnen und Ihrem Vater geäußert.«
Ich nickte.
»Sie geht über das Äußere hinaus«, fuhr er fort. »Eine Zeitlang hatte er die Angewohnheit, wie ein abgeschossener Kampfpilot hinter der feindlichen Linie aufzutauchen. Ich werde niemals jene Nacht vergessen, als er zu Pferde mit einem Schwert an der Seite erschien und mich aufforderte, einen abhanden gekommenen Komposthaufen für ihn ausfindig zu machen.« Er schmunzelte. »Jetzt kommen Sie mit einer Geschichte daher, die mich zu der Vermutung drängt, die Büchse der Pandora sei wieder einmal geöffnet worden. Warum wollen Sie nicht einfach eine Scheidung wie ein vernünftiger junger Mann? Oder die Niederlegung eines Testamentes oder das Aufsetzen eines Vertrages? Eine partnerschaftliche Vereinbarung? Irgend etwas in dieser Art? Nein, das hört sich eher nach einem von Carls Problemen an. Selbst das andere Zeug, das ich für Amber erledigt habe, erscheint vergleichsweise harmlos.«
»Das andere Zeug? Sie sprechen wohl von Concord - damals, als Random Fiona mit einem Exemplar des Mustersturz-Vertrags mit Swayvil, König des Chaos, zu Ihnen schickte, damit sie ihn übersetzte und Sie ihn auf eventuelle Hintertürchen untersuchten?«
»Genau, das meine ich«, bestätigte er.
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