Amber-Zyklus 06 - Die Trümpfe des jungsten Gerichts
auffallend schnell.
»Nein, nein«, sagte sie, »ich habe ihn noch nie in meinem Leben gesehen.«
»Du bist eine schlechte Lügnerin, Tantchen. Wer ist das?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie.
»Komm jetzt! Du hast mir beinahe den Arm gebrochen, als du ihn gesehen hast!«
»Bedräng mich nicht!« bat sie.
»Mein Leben hängt davon ab.«
»Es hängt mehr davon ab als dein Leben, glaube ich.«
»Ja?«
»Laß es im Augenblick darauf beruhen.«
»Ich fürchte, das kann ich nicht. Ich bin gezwungen, beharrlich zu sein.«
Sie wandte sich noch weiter zu mir um, und ihre Hände hoben sich zwischen uns. Rauch stieg von ihren gepflegten Fingerspitzen auf. Frakir pochte an meinem Handgelenk, was bedeutete, daß sie ausreichend sauer war, um mir den Puls abzudrücken, wenn es soweit kommen sollte.
Ich machte eine beschwichtigende Handbewegung und beschloß, klein beizugeben.
»Also gut, laß uns die Sache beenden und nach Hause zurückkehren.«
Sie knickte die Finger ab, und der Rauch verzog sich. Frakir beruhigte sich. Sie zog einen Packen Trümpfe aus ihrer Handtasche und blätterte denjenigen für Amber heraus.
»Aber früher oder später muß ich es wissen«, fügte ich hinzu.
»Später«, sagte sie, und das Bild Ambers entstand vor uns.
Eine Sache mochte ich an Fiona: Sie hielt nichts davon, ihre Gefühle zu verbergen.
Ich griff nach oben und schaltete das Licht in der Kuppel aus, während sich Amber um uns herum zeigte.
Ich nehme an, daß meine Gedanken während der Bestattung typisch sind. Wie Bloom in Ulysses denke ich die weltlichsten Dinge über die Dahingeschiedenen und die gegenwärtigen Vorgänge. Während der übrigen Zeit wandert mein Geist umher.
An dem breiten Küstenstreifen am südlichen Fuß des Kolvir steht eine kleine Kapelle, die dem Einhorn gewidmet ist, eine von mehreren solcher Stätten, die im ganzen Reich verteilt sind, und zwar an solchen Orten, wo diese Gottheit gesichtet wurde. Diese eine schien besonders geeignet für Caines Trauerfeier, insofern als er - wie Gerard - einst den Wunsch geäußert hatte, dereinst in einer der Meereshöhlen am Fuß der Berge zur letzten Ruhe gebettet zu werden, in Richtung zum Wasser, das er so lange und so oft befahren hatte. Eine solche Höhle war für ihn vorbereitet worden, und nach der Andacht würde eine Prozession stattfinden, um ihn dort zu bestatten. Es war ein windiger, nebliger, meereskühler Morgen, an dem nur wenige Segel zu sehen waren, die sich mehrere Meilen westlich von uns zum Hafen hin oder von ihm weg bewegten.
Nach den geltenden Regeln hätte Random die Andacht leiten sollen, schätze ich, da seine Stellung als König ihn gleichzeitig zum Hohenpriester machte, doch außer daß er einen Anfangs- und einen Schlußabsatz über das Dahinscheiden von Prinzen aus dem Buch des Einhorns vorlas, überließ er es Gerard, an seiner Statt den Gottesdienst abzuhalten, da Caine mit Gerard besser ausgekommen war als mit irgendeinem anderen Familienmitglied. Also erfüllte Gerards kraftvolle Stimme das kleine Steingebäude, als er einen langen Abschnitt vorlas, in dem es unter anderem um das Meer und die Unbeständigkeit ging. Man sagte, daß Dworkin, als sein Geisteszustand noch besser war, das Buch eigenhändig niedergeschrieben habe und daß lange Passagen direkt vom Einhorn stammten. Ich weiß es nicht. Ich war nicht dabei. Es wird außerdem behauptet, daß wir Nachkommen von Dworkin und dem Einhorn sind, was einigen ungewöhnlichen Geistesbildern Auftrieb gibt. Allerdings waren das wohl die Ursprünge von allem, das dazu neigte, sich in einen Mythos zu verflüchtigen. Wer weiß? Ich war damals nicht dabei.
»... und alle Dinge kehren zum Meer zurück«, sagte Gerard soeben. Ich sah mich um. Außer der Familie waren vielleicht vierzig oder fünfzig Leute anwesend, vor allem Honoratioren der Stadt, ein paar Kaufleute, mit denen Caine einen freundschaftlichen Umgang gepflegt hatte, Vertreter der Reiche in verschiedenen angrenzenden Schatten, wo sich Caine sowohl in offiziellen als auch in privaten Angelegenheiten längere Zeit aufgehalten hatte, und natürlich Vinta Bayle. Bill hatte den Wunsch geäußert, ebenfalls dabeisein zu dürfen, und er stand zu meiner Rechten. Weder Fiona noch Bleys waren zugegen. Bleys hatte auf seine Verletzung hingewiesen und sein Fernbleiben vom Gottesdienst entschuldigt. Fiona war schlichtweg verschwunden. Random hatte sie an diesem Morgen einfach nicht ausfindig machen können. Julian entfernte sich
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