Ambient 02 - Heidern
gedacht, daß er diese Gegend für 'ne sinnvolle Investition hält.«
Je weiter wir nach Norden fuhren, um so mehr Leute sahen wir, ungefähr ein, zwei pro Häuserblock. »Natürlich hat er seine Pläne«, sagte ich. »Vor ein paar Monaten hat er mit dem Aufkaufen angefangen. Du kennst sicher die Mauer unten am Battery Park?« Lester nickte. »Er meint vorherzusehen, weiß ich von Bernard, der Wasserstand wird eines Tages so hoch sein, daß es nötig ist, den Firmensitz nach hier zu verlegen. Letzten Endes wird er alles abreißen. Ich traue mich gar nicht, daran zu denken, was er statt dessen bauen wird …«
»Hat er sämtliche Mieter auf die Straße gesetzt?«
»Nicht alle«, schränkte ich ein. Nach und nach sahen wir häufiger Einwohner in unserem Blickfeld: Verbliebene Hausbewohner scharten sich an Straßenecken zusammen, umringten Laternenpfähle, als hätten sie Sorge, der Wind könnte sich zum Sturm steigern und sie alle fortwehen. Sie wirkten nur teils real, als ob die ungewissen Bedingungen, unter denen sie lebten, zum Ergebnis hätten, daß sie mit der Zeit verblaßten, schon bevor man sie vielleicht ausmerzte. Am Standort einer verlassenen Tankstelle schaute ein Grüppchen magerer Frauen zwei älteren Männern zu, die einander mit Tänzelschritten umkreisten, die Arme über den Kopf hochgereckt, auf dem Asphaltgelände irgendeine Art von Geistertanz aufführten.
»Ich bin davon überzeugt«, sagte ich, »daß Thatcher sich zurechtspinnt, du könntest Jensen aus dem Koma wecken.«
»Ich glaub, falls er aufwacht, bringt Thatcher ihn doch um, sobald er mit ihm fertig ist. Daß er unter solchen Umständen gern aufgeweckt würd, bezweifle ich.«
Wir bogen in die Gun Hill Road ein; in diesen Zeiten hatte sie einen wirklich passenden Namen. Voraus erhoben sich die Klinikgebäude, ähnelten einer fremden Botschaft in einem von Krieg zerrissenen Land. Zahllose Militärposten bewachten die umliegenden Straßen; auf Sandsackstapeln kräuselten sich in Kopfhöhe Spiralen wie Rasierklingen scharfen Stacheldrahts. Unser Chauffeur steuerte vorsichtig an aus Beton gegossenen Drachenzähnen und Pollern vorbei, die in unberechenbaren Abständen aus dem Straßenbelag ragten. An mehreren Kontrollpunkten gestattete man uns die Durchfahrt bis zum jeweils nächsten Posten. Durch die isolierten Fahrzeugwände drang mir allmählich ein ununterbrochenes, entferntes Surren ins Bewußtsein, das an einen Heuschreckenschwarm erinnerte.
»Wo gehen wir hinein?« fragte ich.
»Am sichersten dürfte der Eingang zur Notaufnahme sein«, sagte Avi durch die Sprechanlage. »Im Büro lagen keine Informationen darüber vor, wie man die Versuchsstation findet …«
»Ich dachte, wir betreiben die Klinik.«
»Das heißt nicht, daß wir alles über sie wissen. Wir erkundigen uns drinnen am Aufnahmeschalter.«
Als ich aus dem Autofenster blickte, während wir die letzte Ecke umrundeten, erkannte ich den Ursprung des ständigen Geräuschs. Ein Schwarm Ambulanz- und Polizeihubschrauber landete gerade auf einer freien, infolge wiederholter Starts und Landungen längst zermalmten, verwühlten Grünfläche. Der von den Rotoren erzeugte Wind peitschte das ausgetrocknete Erdreich himmelwärts, verwirbelte es zu Staubwolken.
»Bleib dicht hinter mir«, empfahl Avi, indem wir dem Wagen entstiegen, schritt rasch in die Klinik voraus, durchquerte die elektronisch verriegelbaren Stangen der Absperrung zur Notaufnahme. Rundum trafen wir fehlende Einwohnerschaft der Bronx an: Hunderte hatte man ins Wartezimmer gepfercht, wo sie Schulter an Schulter auf Sitzbänken längs der Wände saßen, und vor dem Warteraum lagen sie in Massen auf Bahren oder in ungleichmäßigen Reihen auf Decken am Fußboden. Das schrille Geplärr von Kindern gellte in atonalem Kontrapunkt zum gedämpfteren Gebrummel und Gemurmel der Erwachsenen. Klinikpersonal trippelte so wachsam-achtsam wie im Minenfeld durch die Menge, verteilte Formulare, maß mit Digitalthermometern Temperatur, reichte Fiebernden in kleinen Bechern Wasser, steckte denen Medikamente zu, die ihrerseits Geeignetes zur Bestechung mitgebracht hatten. Neun Fernsehgeräte, keines intakt, hingen an einem wie ein grotesker Kronleuchter beschaffenen Gebilde unter der Decke des Wartezimmers; das Pulsen ihrer Mattscheiben beruhigte, beschwichtigte jene unter den Wartenden, die Lust verspürten, zu ihnen hinaufzuschauen.
Avi zupfte am Ärmel eines Krankenhausarztes; der Mann hustete, hatte allem Anschein nach etwas
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