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Ambient 04 - Terraplane

Ambient 04 - Terraplane

Titel: Ambient 04 - Terraplane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
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zeigten sich nur als Rahmenskelette gegen den Nachthimmel, unvollendet geblieben, so vermutete ich, als das Geld ausging. Wir fuhren durch den Kreis in den Broadway, vorbei an hellen, breiten Schaufenstern, in denen die neuesten Modelle vom Hupmobile Pontiac Studebaker standen, vorbei auch an einer Terraplane-Filiale, wo wir unser Transportmittel in neugeborener Form sahen. Viele schliefen unter den glänzenden Auslagen am Gehsteig.
    »Doc war wundervoll freundlicher Mann«, sagte Oktobrjana. »Viel Güte in ihm. Große Menschenkenntnis. Wissen gegeben. Im Himmel oben, wenn die Seele überlebt. Wahrscheinlich schwebt sie für immer zwischen den Welten. Der Himmel ist im Zwischenraum. Auch Hölle.«
    »Was für ein Zwischenraum?« fragte Wanda. Da ich mich der Metapher erinnerte, konnte ich ihrer Logik folgen: Daß, wenn solch ein neutraler Zwischenraum existierte, er für Docs Seele geradesogut sein würde wie jeder andere Ort. Ich merkte, daß sie ein Stadium erreicht hatte, wo ihre Gedanken rascher kamen und gingen, als sie ihnen in logischer Folge Ausdruck verleihen konnte. In dem Maße, wie Oktobrjana von der gewandten Erzählerin zur Yurodiva wurde – eine unübersetzbare Bezeichnung für eine scheinbar einfältige Person, die von heiligen Dingen spricht und recht behält –, wurden ihre endlosen Kommentare zuerst ermüdend, dann bedrückend, und schließlich, wie mit allem, gewöhnten wir uns daran. Sie sprach über alles Gesehene, als wir über den Times Square fuhren, in unserer Zeit Heimat aller Wilden und Unnatürlichen; er zeigte er sich als das, was er in der Kindheit meiner Eltern gewesen sein sollte, eine in Regenbogenfarben glitzernde Bühne, auf der ungezählte Millionen auftraten. Riesige Neonreklamen, doppelt so groß wie alles, was in unseren Tagen zu sehen war, priesen in schillernden Farben Four Roses, Seagrams und Chevrolet an. Hinter uns behauptete eine mit hohen gelben Buchstaben, daß ein Beutel Erdnüsse von Planters uns den ganzen Tag mehr Schwung geben würde; wie der Schwung angewendet werden sollte, wußte ich nicht. Zur Linken blies ein mehrere Meter hoher pausbackiger Kopf Rauchringe in die Luft – Camel. Ein trapezförmiges Gebäude von unbestimmt italienischem Aussehen stand im Schnittpunkt zwischen Broadway und Seventh Avenue; um seine Fassade lief zwischen Erdgeschoß und erstem Stock eine farbige Leuchtschrift, die durch das Aufleuchten Tausender kleiner Glühbirnen Nachrichten und Wetter verkündete. An der Ecke Vierundvierzigste und Broadway standen Männer wie russische Käufer um den Block Schlange; hier warteten sie auf einen Laib Brot, der ihnen – einer pro Person – von einem Lastwagen der Heilsarmee gereicht wurde.
    »Sonntagszeitungen sind schon da«, sagte Wanda, ordnete sich nach rechts ein, vorsichtig bemüht, keines der zahllosen Taxis und sonstigen Fahrzeuge zu rammen. Ich sah ein Zeichen und fragte mich, was ein Automat sein mochte; keine Zufahrt führte hinein. »Ich halte an und besorge ein paar. Sie können unterdessen sehen, was in der Welt vorgeht.«
    »Wann wird die Nachricht von unserer Aktion herauskommen?« fragte ich. »Heute morgen?«
    »Wenn es nur die Polizisten und Norman gewesen wären, würde keine Zeitung bis auf die Age darüber berichten«, sagte sie. »Da ihr aber außerdem zwei FBI-Leute mitgenommen habt, wird es morgen abend und Montag auf den Titelseiten sämtlicher Zeitungen im Land stehen. Vorher aber nicht.«
    Nachdem sie den Wagen in der Nähe der Zweiundvierzigsten gebordsteint hatte, bei einem der größeren Zeitungsstände, stieg sie aus.
    »Mir ist brennend heiß«, sagte Oktobrjana; ihr Stoffwechsel beschleunigte sich immer mehr, und obwohl sie äußerlich still saß, verzehrte ihr Körper sich mit erschreckender Geschwindigkeit. »Klima scheint hier die ganze Zeit so tropisch. Anders als Rußland, wo wir keinen Dschungel haben. Hier haben wir Lichtwald.« Sie murmelte Unverständliches, während sie die Leuchtschrift zu unserer Linken verfolgte. WOLKIG, MORGEN REGEN, las ich. ARBEITSLOSENRATE WIRD NÄCHSTES JAHR FÜNFZIG PROZENT ERREICHEN, SAGT LONG.
    »Pardon?«
    »Wie oft die Glühbirnen in einer Stunde aufleuchten«, sagte sie in Erläuterung ihrer verlorengegangenen Bemerkung. Wiederholt versuchte sie, die Haarsträhnen aus ihrem Gesicht zurückzuwerfen, blieb erfolglos, strich sie schließlich mit der Hand aus der Stirn. »So müde und schmerzend. Wie auf der Streckbank. Wie nach wochenlangem Lauf ohne Aufenthalt.

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